Die Gruppe mit den gelben Armbändchen ist bunt gemischt. Gerolzhöfer und Auswärtige, Junge und Alte, Prominente und weniger Prominente. Fast vier Stunden Premiere des Wandeltheaters „Du musst dran glauben – Luther, Echter und Gerolzhofen“ liegen vor 100 erwartungsvollen Menschen.
Durch das Hauptportal wandeln sie in die Stadtpfarrkirche. Die Bändchenkontrolleure am Eingang verrichten ihren Dienst unaufdringlich.
Die verrottete alte Kirche
Auf der groß dimensionierten Bühne im Altarraum falten die Schauspieler den verrotteten Zustand der alten Kirche aus. Ein Ministrant muss dem betrunkenen Kaplan den Liturgietext vorsprechen, ein Ablassverkäufer treibt sein skurriles Spiel. Unterschwellig wird Verständnis aufgebaut dafür, dass viele dieser Kirche nicht mehr angehören, aber trotzdem glauben wollen. Martin Luther war einfach überfällig.
Szenen gehen unter die Haut
Die Gruppe mit den gelben Bändchen ist jetzt schon in den Bann geschlagen. Als das tote evangelische Kind, dem der katholischen Pfarrers den Bestattungsritus verweigert, aus dem Steigerwalddom getragen wird, geht das den Zuschauern erstmals so richtig unter die Haut. Es wird nicht das einzige Mal sein an diesem Abend.
Auf dem Weg zur Spitalkirche begegnet das wandelnde Publikum einer anderen Gruppe. Viele kennen sich, grüßen sich. Es ist schon ungewöhnlich, so große Fußgängergruppen in der Stadt zu sehen.
Eine ganze Altstadt als Kulisse
Überhaupt: die Stadt als Kulisse. Manche merken, wie schön doch Gerolzhofen ohne Autos ist. Und überall stehen Häuser am Straßenrand, die auch schon zu Luthers und Echters Zeit dort standen. Das verstärkt die Eindrücke aus dem Stück.
Nicht weit weg von der Spitalkirche, auf dem First des Echterschen Oberamtshauses wehen die europäische, die deutsche und die fränkische Fahne auf halbmast. Sie wehen für das junge Leben, das in Manchester unbarmherzig ausgelöscht wurde. Drinnen in der Spitalkirche geht es um Barmherzigkeit, ein Begriff der heute so aktuell ist wie vor 400 oder 500 Jahren.
Der Pfarrer wird zum Pfründner
Bereits jetzt zeigt sich, warum das Konzept des Kleinen Stadttheaters wie schon bei „Fräulein Schmitt“ so erfolgreich ist. Leute aus der Stadt, ebenso bunt zusammengewürfelt wie das Publikum, spielen ein Stück Geschichte ihrer Stadt. Es ist halt halt schon etwas Besonderes, einen Mann wie Pfarrer Stefan Mai nicht im Messgewand, sondern in der Kleidung eines armen Pfründners zu sehen, ihn vor Wut explodieren zu hören oder ihn zu beobachten, wie er andere derb am Kragen packt.
Die Dunkelheit bricht an, als die Gruppe an der Vogtei eintrifft. Der Brunnen im Hof eignet sich fantastisch als Plattform für den Tanz der Hexen um den Teufel. Derweil kokeln drüber am Eulenturm schon echte Haare von Menschen. Das Kleine Stadttheater hat sie schon seit einem halben Jahr bei Gerolzhöfer Friseuren gesammelt. Es stinkt.
Gerade als die Hexen ausgetanzt haben, kommt Regisseurin Silvia Kirchhof auf dem Fahrrad vorbei. Sie schaut nur kurz, ob alles seinen Gang geht, scheint zufrieden und fährt weiter.
Drinnen geht es eng zu. Nicht alle finden einen Sitzplatz. Manchen wird es noch enger um die Brust, als Zentgraf Valentin Hausherr zu wüten beginnt. Im bürgerlichen Leben Zeitungsmann, spielt Klaus Vogt seinen menschenverachtenden Part so intensiv, dass eine Frau aus dem Raum geht. „Ich kann das nicht ertragen“, sagt sie. Ja, das Stück durchdringt das Gemüt.
Weiter geht es Richtung Erlöserkirche. Wandeltheater inkludiert auch Stadtführung. Hans-Dieter Schreyer, eben noch Amtmann Vitus Zyrer, erklärt jetzt die Bedeutung eines Fachwerkhauses in der Bahnhofstraße als Zollstation zu Echters Zeiten.
Ein Zeichen der Barmherzigkeit am Wegesrand
Auf der Bank vor dem Floriansbrunnen sitzen ein paar Flüchtlinge und beäugen die vielen Menschen, von denen sie nicht wissen, warum sie an ihrer Unterkunft in der „Schwane“ vorüberziehen. Hier sitzt der Kontrapunkt zu den Flaggen auf dem Amtshaus. Hier ist ein Stück Barmherzigkeit leibhaftig zu sehen, Barmherzigkeit auch gegenüber Menschen mit einer anderen Religion.
Wieder sitzen die Menschen mit offenen Mündern da. In der Erlöserkirche zeigen Schauspieler, wie der Glaubenszwist Familien und Nachbarn unbarmherzig entzweit.
Starke Dramaturgie im Schlussdialog
Im Spitalgarten strömen dann alle vier Gruppen zusammen. Noch einmal ganz starke Dramaturgie. In markigen Sätzen setzen sich Martin Luther und Julius Echter auseinander. Im Verlauf ihres Disputs merken sie aber, dass sie beide eigentlich das Gleiche wollten – die Kirche reformieren. Der Ton wird milder. Pfarrer Stefan Mai tritt zwischen die beiden. Die Versöhnung naht.
Die Gruppe mit den gelben Bändchen hat sich inzwischen unter 300 andere Nachtwandler gemischt. Schauspieler und Publikum singen zusammen „Allein Gott in der Höh sei Ehr“. Ja: All Fehd' hat nun ein Ende.