Durch das brennende Würzburg sind am 16. März 1945 auch Menschen mit einem gelben Stern auf der Kleidung gehetzt. Es waren Juden, die der Ermordung entgangen waren, weil die Nazis sie als halbe „Arier“ betrachteten. Der zwölfjährige Hans Schwabacher und seine Geschwister Michael (13) und Thomas (9) gehörten zu dieser kleinen Gruppe. Die drei Buben hatten einen jüdischen Vater und eine Mutter, die zwar bei der Hochzeit zum Judentum übergetreten war, aber lauter katholische Vorfahren besaß. Hans und seine Brüder waren in der Nazisprache „Mischlinge“, und wie alle „Mischlinge“ mussten sie im Haus Domerschulstraße 25 wohnen, direkt neben der 1938 geschändeten Synagoge.
Hans und seine Brüder hatten schlimme Verluste erlebt. 1939 musste der Vater auf Druck der Gestapo Deutschland verlassen; er war erst nach England, dann in die USA ausgewandert. Die lungenkranke Mutter Else Schwabacher erhielt keine Einreiseerlaubnis in die USA und blieb mit den Kindern in Würzburg; immer wieder verbrachte sie längere Zeit in Sanatorien und konnte nicht für ihre Söhne sorgen, so auch am 16. März 1945.
Hans und seine Geschwister hatten miterlebt, wie Verwandte und jüdische Freunde spurlos verschwanden; dass sie alle ermordet wurden, wussten sie nicht. Aber Hans spürte, dass sein Leben und das seiner Brüder in größter Gefahr war. In seiner Autobiografie „Remembering“ schrieb er 2003: „Wir stellten uns nicht vor, dass wir getötet würden. Aber wir stellten uns vor, dass wir verschwinden würden wie viele Freunde und Verwandte. Ständig erwarteten wir, dass die Nazis mit ihren großen Autos kommen und uns mitnehmen, wir hatten es so oft gesehen.“
Als am Abend des 16. März die Sirenen ertönten, gingen Hans Schwabacher und seine Brüder in den Keller. Wie jeden Abend nahm jeder ein kleines Köfferchen mit Äpfeln und Brot mit. Wie jeden Abend verabschiedeten sich die Buben von ihrem geliebten Haustier, einem kleinen gelben Kanarienvogel. Tiere durften grundsätzlich nicht in Luftschutzräume mitgenommen werden. Im Keller hörten die drei Buben voller Schrecken die Bomben fallen. Eine Explosion folgte der anderen, der Keller bebte. Die Kinder kuschelten sich aneinander, hielten einander fest und fragten sich, ob sie die Nacht überleben würden.
„Wir hatten Glück, dass es in dem elenden Haus einen sehr tiefen Keller gab“, notierte Hans 2003. „Während der Bombardierung stürzte das Haus zusammen und geriet in Brand. Wir verließen unseren Keller durch einen Gang, der ihn mit einem anderen Haus verband. Wir gingen im Untergrund von Haus zu Haus; das fünfte war noch nicht ganz eingestürzt.“
Nach seiner Auswanderung in die USA malte der inzwischen 15-jährige Hans Schwabacher, der sich jetzt John nannte, in der Schule ein Bild, das seinen Weg zu einem Schutzraum im Hofgarten zeigt – ein einmaliges und bisher nur in seinen Memoiren veröffentlichtes Dokument, das jetzt im Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken liegt.
John nannte es „Eine Jagd nach Sicherheit“ – „A Hunt for Safety“.
„Die Geschichte, die ich erzählen werde, ereignete sich in einer kleinen Stadt in Deutschland. Ihr Name ist Würzburg“, schrieb er in einem Text auf dem Bild. Beim Datum täuschte er sich; er verlegte das Geschehen auf den 15. März.
„Ich lebte in Würzburg, bevor ich nach Amerika kam“, steht auf dem Bild. „Plötzlich wurde das Haus von Bomben getroffen und wir merkten, dass das Haus brannte. Wir versuchten, durch die Tür hinauszukommen, aber die Tür war durch brennende Holzbalken versperrt. Wir versuchten, durch den Notausgang hinauszukommen, aber schließlich gelangten wir durch ein weiteres brennendes Haus in die Kettengasse.“
John fand 1948 für seine amerikanischen Mitschüler englische Namen für die Straßen, durch die er und die anderen hasteten. Die Kettengasse nannte er in wörtlicher Übersetzung „Chain Alley“, die Domerschulstraße „Cathedral Street“ (Dom heißt auf Englisch cathedral), die Balthasar-Neumann-Promenade, von den Würzburgern Schwarze Promenade genannt, wurde zur „Black Forest Avenue“.
„Wir sahen, dass nicht nur die Häuser in unserer Straße brannten, sondern die ganze Stadt“, schrieb John 1948. „Wir versuchten, uns in der Orangerie in Sicherheit zu bringen, aber sie brannte ebenfalls. Dann gingen wir zum Teich, um unsere Kleider mit Wasser zu tränken, um uns gegen die herumfliegenden Funken zu schützen. Auch die meisten Bäume brannten und wir mussten durch Büsche kriechen. Schließlich gelang es uns, einen sicheren Platz in einem anderen Luftschutzraum zu finden, der tief in die Felsen gehauen war.“
John berechnete die Entfernung vom Keller zum Schutzraum hinter der Residenz: 540 Yards, knapp 500 Meter. Er schrieb, wie lange es gedauert hatte, um zur sicheren Unterkunft zu gelangen: etwa sieben Minuten.
Am nächsten Tag gingen die Brüder zurück. „Wir sahen viele Tote in unseren Straßen – verkohlte Körper, eine tote Nachbarin, die auf einer Treppe lehnte; ihre Handtasche hing an ihrem versengten Arm“, steht in Johns Memoiren. „Zu diesem Zeitpunkt machte es keinen Unterschied mehr, ob du Jude bist oder nicht, Nazi oder nicht. Es ging nur noch ums Überleben. Keiner folgte uns mehr; jeder dachte nur noch daran, seine eigene Haut zu retten.“
Else Schwabacher, die lungenkranke Mutter der drei Buben, starb am 29. Mai 1945 im Alter von 37 Jahren. 1947 wanderten die Söhne zum Vater in die USA aus. Thomas, der Jüngste, starb 1993. John und Michael besuchten Würzburg seither mehrmals – zuletzt im April 2012, als die Stadt Holocaust-Überlebende einlud. Schülern erzählte John, der heute in Kalifornien lebt, damals seine unglaubliche Geschichte.
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