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WÜRZBURG: Als die Menschen wie die Fliegen starben

WÜRZBURG

Als die Menschen wie die Fliegen starben

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    Opfer der Spanischen Grippe: Das in der Endphase des Ersten Weltkriegs entstandene Gemälde „Kindertod“ von Heinrich Ehmsen zeigt eine Mutter, die angesichts der vielen gestorbenen Säuglinge ihr Kind ängstlich festhält. Das Bild ist dem Katalog der Ausstellung „Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten“ des Deutschen Historischen Museums entnommen.
    Opfer der Spanischen Grippe: Das in der Endphase des Ersten Weltkriegs entstandene Gemälde „Kindertod“ von Heinrich Ehmsen zeigt eine Mutter, die angesichts der vielen gestorbenen Säuglinge ihr Kind ängstlich festhält. Das Bild ist dem Katalog der Ausstellung „Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten“ des Deutschen Historischen Museums entnommen. Foto: Foto: Deutsches historisches museum berlin

    Die Würzburger nannten sie „Lungenpest“, jene unheimliche Krankheit, die im Herbst 1918 in der Stadt Hunderte von Menschen dahinraffte. „Spanische Grippe“ lautete der offizielle Name, weil zuerst Zeitungen im neutralen Spanien mit seiner laxen Zensur über ihr Auftreten berichtet hatten, doch die inoffizielle, wenn auch medizinisch falsche Bezeichnung Lungenpest passte besser: Weil diese Grippe oft mit schwersten Lungenentzündungen einherging und weil sie eine weltweite Erscheinung wie im Mittelalter die Pest war.

    Schon im Sommer 1918 hatte die Krankheit, die offenbar in den USA ihren Ausgang nahm und von amerikanischen Soldaten nach Europa gebracht wurde, Würzburg berührt, war dann aber schnell wieder zurückgewichen. „Weder Alt noch Jung, weder Arm noch Reich bleibt gewöhnlich davon verschont“, warnte im Juli ein Arzt in der SPD-Tageszeitung „Fränkischer Volksfreund“. Im Sommer 1918 glaubte man freilich noch, die durch einen Virus verbreitete Krankheit sei nicht lebensgefährlich und verschwinde nach einem „Fiebersturm“ mit allerlei Nebenwirkungen und kurzer Bettruhe von selbst wieder.

    Schulen schlossen, das Leichenhaus war belegt

    Im Juli war es auch so, doch im Herbst sah es anders aus. Am 10. Oktober schrieb der „Volksfreund“, dass die Spanische Grippe erneut in Würzburg auftrete. Vor allem Kinder würden massenhaft von der Krankheit befallen; in Heidingsfeld, damals noch eine unabhängige Gemeinde, seien deshalb die Schulen für eine Woche geschlossen worden. Am 13. Oktober war das Leichenhaus laut dem konservativen „Würzburger General-Anzeiger“ „so stark mit Leichen belegt wie seit langem nicht mehr“.

    An diesem Tag erwähnte der 31-jährige Adelbert Gümbel die Grippe in seinem Tagebuch: „Die Leute sind ein bis zwei Tage unter schwerem Fieber und sterben.“ Der Sanitätsfeldwebel, der im Reservelazarett Oberrealschule, dem heutigen Röntgen-Gymnasium, arbeitete, brachte die Krankheit in Verbindung mit den Kämpfen, die seit über vier Jahre tobten: „Gott will haben, dass dem Krieg ein Ende gesetzt werde!“

    Am 15. Oktober war die Spanische Grippe Thema im Stadtrat. Inzwischen hatten auch in Würzburg die Volksschulen geschlossen; in der Pleicher Schule waren 33 Prozent der Buben und Mädchen krank, in der Stadt fehlten 22 Lehrkräfte wegen der Epidemie. Dennoch sahen die Stadträte von der Schließung von Theatern, Kinos sowie Konzert- und Versammlungsorten noch ab. Bürgermeister Andreas Grieser äußerte zuversichtlich, dass, wie im Sommer, die Grippe rasch wieder verschwinden werde. Seine Hoffnung wurde brutal enttäuscht.

    Totengräber hatten viel zu tun

    Am 19. Oktober berichtete der „Volksfreund“, dass „die Erkrankungen in den letzten acht Tagen eine merkliche Steigerung erfahren“ hätten und dass gelegentlich ganze Familien betroffen seien. Die Volksschulen blieben daher geschlossen und auch über das Verbot von Kinovorführungen wurde nun ernsthaft nachgedacht. Am 22. Oktober schrieb Adelbert Gümbel in seinem Tagebuch von 31 Toten an einem einzigen Tag. Auch später ging das „große Sterben“ (Tagebucheintrag vom 25. Oktober) weiter. Gümbel: „Leichenwagen und Totengräber hatten um jene Zeit alle Hände voll zu tun.“

    25 Millionen Menschen – nach anderen Schätzungen sogar 50 Millionen – fielen weltweit der Spanischen Grippe zum Opfer. In Deutschland sollen es zwischen 250 000 und 460 000 gewesen sein.

    Auch wenn diese Hypothese inzwischen bestritten wird, glaubten viele Menschen damals, die unbeherrschbare Krankheit hänge vor allem mit der mangelhaften Ernährung der Bürger zusammen. Tatsächlich hungerten am Ende des vierten Kriegsjahres viele Menschen. „Zur Zeit herrscht großer Mangel an Gemüse und Kartoffeln, wie fast überhaupt an allem“, schrieb Adelbert Gümbel am 9. August 1918: „Es ist eine teure und arme Zeit!“ „In den letzten drei Tagen hatte meine Familie kein Brot“, hieß es am 25. September 1918 verzweifelt.

    Gümbel tat alles, um die Seinen über die Runden zu bringen. Am 5. Juli 1918 fuhr er abends nach Dienstschluss nach Ochsenfurt und erwarb für „Sündengelder“ (Tagebuch) ein paar Pfund Kirschen und Johannisbeeren; mitten in der Nacht kehrte er zurück. Er war nicht der Einzige, wie er beobachtete: „Der Zug hinaus war dicht besetzt mit Leuten,

    ausgestattet mit Körben, Kästen und Rucksäcken.“

    Hartherziger Umgang mit Hamsterern

    Der Erwerb von Lebensmitteln direkt beim Erzeuger war inzwischen verboten, doch die Hungernden kümmerten sich nicht mehr um solche Vorschriften. Betrieben, denen illegaler Schleichhandel mit Nahrungsmittel nachgewiesen wurde, konnten für mehrere Monate geschlossen werden, was im Sommer 1918 in Würzburg zweimal tatsächlich geschah.

    Am 22. August 1918 beschrieb der „Volksfreund“, mit welchen Mitteln der Staat versuchte, „Hamster“, wie man damals sagte, zu bestrafen und Nachahmer abzuschrecken: „Seit Wochen führt der Nachmittags- und Abendzug nach und von Ochsenfurt her den Namen 'Kartoffelzug?. Unzählige Frauen, Kinder und Männer riskieren halbe Tage. Sie wissen, dass sie die Verordnung übertreten, aber der Hunger zwingt sie, einige Pfund Kartoffeln in den Nachbarorten zu holen.“

    Der „Volksfreund“ weiter über die herzlose Reaktion der Behörden: „Da stationiert man an den Bahnhöfen Militärkommandos – einen Unteroffizier und zwei Mann –, die nun dem Gesetz Achtung verschaffen, die Autorität wahren, das Vaterland retten sollen. Aus den Scharen der hungernden 'Kartoffelhamster? werden wahllos einzelne Frauen und Kinder herausgegriffen. Ihre paar Kartoffeln werden ihnen unbarmherzig genommen. Die Kinder weinen, die Frauen bitten. Alles vergeblich.“

    Für Schwangere ein halber Liter Milch - pro Monat

    Die Not war groß. Erwachsene Würzburgerinnen und Würzburger erhielten nur noch sechs Kilogramm Brot und einen Drittel Liter Milch im Monat. Kinder bis zwei Jahre bekamen für vier Wochen lediglich einen Liter Milch, Schwangere pro Monat einen halben Liter.

    Im Bericht der Stadtverwaltung über die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit hieß es später, der „grauenhafte Mangel an Milch, Zucker und den anderen gerade für die Säuglinge und Kleinkinder unentbehrlichen Nahrungsmitteln“ habe „ein erschütterndes Maß an Unterernährung zur Folge“ gehabt. Die meisten Mütter seien zu schwach zum Stillen gewesen, schrieb der spätere Würzburger Oberbürgermeister Hans Löffler, der im Krieg für die Ernährung der Bevölkerung zuständig war.

    Ein bisschen Milch für Baby Elisabeth

    Adelbert Gümbel hatte Glück im Unglück. Im Januar 1918 hatten seine Mutter und seine Stiefschwester das Restaurant Luisengarten in der Würzburger Martin-Luther-Straße übernommen. Als im Juli 1918 seine Frau Maria das zweite Kind, die Tochter Elisabeth zur Welt brachte, gab Gümbels Mutter fast täglich aus ihrer Zuweisung einen Liter Milch ab, was die Ernährung von Maria und dem Baby Elisabeth stark verbesserte.

    Am 24. Oktober brachte der „Volksfreund“ die Epidemie erstmals in Verbindung mit dem zehrenden Krieg und der mangelhaften Ernährung: Hunger und Krankheit, die stets im Gefolge des Krieges auftreten, seien auch in diesem „fürchterlichen Völkerkampf“ nicht ausgeblieben: „Der mit allen Gasen der Hölle verseuchte Westen haucht Wellen von Krankheitskeimen über die Länder aus. Er schwingt die Geißel unbarmherzig über die Völker Europas und wird wohl erst aufhören, wenn er samt seinem Oberteufel, dem verfluchten Krieg, in die Hölle gesandt ist, wo die Plagen dieser fünfzig Monate überhaupt hingehören.“

    Eine Besserung war vorläufig freilich nicht in Sicht. Ende Oktober verzeichnete die Ortskrankenkasse in Würzburg rund 1000 erwerbsunfähige Kranke; auch die Kinderklinik meldete erhöhte Ziffern. Der Stadtrat beschloss daraufhin, die Volksschulen weiterhin nicht zu öffnen. Zwischen 26. Oktober und 1. November mussten zudem Kinos, Varietés, Kabaretts und das Stadttheater geschlossen bleiben; Konzerte und Versammlungen waren verboten.

    Dem Kino die Vorführungen verboten

    Im „Volksfreund“ veröffentlichten die in der Domstraße beheimateten Luitpold-Lichtspiele (LuLi) eine Anzeige, in der eine Beschwerde gegen die Maßnahme angekündigt wurde, „da bei unserem gesamten Personale von 22 Köpfen noch kein Krankheitsfall eingetreten“ sei. Der Beschwerde war indes kein Erfolg beschieden, da man im Rathaus die größte Ansteckungsgefahr durch die Besucher, nicht die Beschäftigten sah. Inzwischen wurden nach einer Intervention von Johannes Rietschel, dem Direktor der Universitätskinderklinik, auch die Kinderhorte in Würzburg geschlossen.

    Am 27. Oktober forderte die Spanische Grippe in Würzburg allein 26 Opfer. Am 1. November, als die Totenzahlen endlich zu sinken begannen, beschloss der Stadtrat, alle Beschränkungen von öffentlichen Veranstaltungen zurückzunehmen und auch die Schulen wieder zu öffnen. Doch der Rückgang war nicht kontinuierlich: Am 8. November hatte die Grippe wieder so zugenommen, dass die Volksschulen leerstehen mussten. „Wie die Fliegen sterben die Menschen dahin“, schrieb der Lehramtsstudent Leo Gundelfinger.

    Als die Herrschaft der Viren ein paar Tage später endlich gebrochen war, waren Würzburg und ganz Deutschland verwandelt: Die Novemberrevolution und die Abdankung von Kaiser und Königen hatten eine neue politische Zeitrechnung eingeläutet.

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