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WÜRZBURG/SUHL: Als die Ossis rübermachten

WÜRZBURG/SUHL

Als die Ossis rübermachten

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    Am 11. November 1989 machten Silke, Daniela, Holger und Sven rüber. Die vier jungen Suhler stiegen an diesem Samstag um 6 Uhr, als es noch dunkel war, in ihren Trabi und starteten in die Partnerstadt, die sie bisher nur vom Hörensagen kannten. Acht Stunden brauchten sie für die 140 Kilometer nach Würzburg. Denn: An diesem Samstag, am Tag zwei nach dem Mauerfall, kamen Tausende weiterer Suhler auf dieselbe Idee und quälten sich über verstopfte Straßen.

    Am Tag zuvor war klar geworden, dass DDR-Bürger zum ersten Mal seit 1961 wirklich frei reisen konnten. An diesem Freitag, 10. November, prägten ungewöhnlich lange Autoschlangen die Partnerstadt. Vor den beiden Tankstellen stauten sich Fahrzeuge, deren Besitzer schnell noch das Zweitaktgemisch bunkern wollten, das der Trabant fürs Vorwärtskommen brauchte.

    Die Polizeistelle für Pass- und Fernmeldewesen beim Bahnhof war von Menschentrauben umlagert, die bis zu fünf Stunden warteten, bis ihnen das Besuchervisum in den Ausweis gestempelt wurde. Ganze Abteilungen kamen geschlossen aus Betrieben an, um sich den begehrten Stempel zu holen. Um den Arbeitsausfall einzudämmen, erteilte die Polizei Visa schließlich auch in den Werkshallen.

    Und dann folgte am Samstag der erste große Exodus.

    In Würzburg liefen die vier jungen Suhler Silke, Daniela, Holger und Sven Main-Post-Reporter Frank Boxler in die Arme, der sie auf ihrem Weg durch die Straßen begleitete. „Das ist so, als hättest du jahrelang mitten im Wald gelebt und kommst das erste Mal in die Stadt“ – mit diesen Worten beschrieb der 24-jährige Sven Köhler seine ersten Würzburg-Eindrücke.

    Shopping gehen und sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild vom Westen machen wollte das Quartett. Ein Paar richtige Cowboystiefel wünschte sich die 18-jährige Daniela Hoffmann. „Dafür würde ich sogar mein ganzes Begrüßungsgeld opfern“, gestand die Friseurin. Silke Dathe (19) träumte von einem Paar West-Jeans, Holger Schrumpf (22) von einer neuen Jacke.

    Pech für die jungen Leute, dass sie erst um 14 Uhr Würzburg erreichten. Die Geschäfte schlossen gerade; dabei hatte die Münchner Regierung für den erwarteten Ossi-Ansturm die Ladenschlusszeiten kurzfristig außer Kraft gesetzt.

    Stadtverwaltung und Hilfsdienste stellten sich dagegen überraschend schnell auf den Besucherstrom ein. Als am Samstag das Rote Kreuz in aller Frühe meldete, dass auf dem Residenzplatz schon 60 bis 80 DDR-Autos stünden – sie waren in der Nacht losgefahren – begann man, Mitarbeiter für eine außergewöhnliche Wochenendschicht zusammenzutrommeln.

    So konnten am Samstag über 800 und am Sonntag rund 1000 Besucher aus der DDR im ausnahmsweise geöffneten Büro für Bürgerhilfe 100 D-Mark „Bargeldhilfe“ – allgemein Begrüßungsgeld genannt – in Empfang nehmen, die jeder Besucher aus dem anderen Deutschland erhielt. Beim zweiten Besuch gab es weitere 40 Mark.

    Aber auch Rotes Kreuz, Johanniter-Unfallhilfe, Polizei und viele Privatleute taten das ihre, um denen, die ihre überraschend erlangte Reisefreiheit ausprobierten, den Aufenthalt möglichst angenehm zu gestalten.

    So gab es im Stadtcasino Verpflegung für die Besucher aus dem Osten, ein Notdienst für defekte Trabis wurde organisiert, Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen und Kontakte zwischen Würzburgern und Besuchern von „drüben“ ermöglicht.

    Karin Fehrer, Chefin des gleichnamigen Cafés in der Wilhelmstraße, erinnert sich: „Mein Vater leitete damals den Bosch-Dienst in der Urlaubstraße. In diesen bewegten Tagen hat er ein gutes Dutzend Trabis kostenlos repariert. Anker, Kohlen oder Wicklungen der 6-Volt-Lichtmaschinen waren einfach verbrannt. Nichts ging mehr.“

    ADAC und Polizei kamen mit liegengebliebenen Trabis im Schlepptau zur Werkstatt. Alte Ersatzteile, besonders von Opel und VW, wurden ausgegraben und die sieben Mitarbeiter arbeiteten sich langsam in die Geheimnisse der Trabanten ein. Karin Fehrer: „Die Trabifahrer waren ob der großen Hilfsbereitschaft oft den Tränen nahe, wenn sie statt der Rechnung von meiner Mutter Brunhilde Kaffee oder ein Mittagessen präsentiert bekamen.“

    Das Café Fehrer öffnete an jenem historischen Samstag – wie jeden Tag – um sechs Uhr morgens. Da sah Karin Fehrer, dass Suhler, die schon am Freitag losgefahren waren, die kalte Nacht in ihrem Wagen vor dem Eingang verbracht hatten: „Unter anderem fand sich eine vierköpfige Familie aus Suhl zum Frühstück bei uns ein. Als sie hernach bezahlen wollten, war die Rechnung schon stillschweigend beglichen worden. Ein Stammgast, der jeden Morgen im Café seine Brötchen holte, zeigte sich großzügig.“

    Einen unvorhergesehenen Großeinsatz hatte an diesem Wochenende Bernd Höland, der Vorsitzende des Freundeskreises Würzburg-Suhl. Praktisch rund um die Uhr kümmerte er sich um Suhler, die ihn anriefen und sich zum Beispiel nach einer Übernachtungsmöglichkeit erkundigten. Er und seine Frau nahmen selbst Thüringer Gäste auf und brachten weitere bei Freunden unter.

    Als die Läden geschlossen hatten, herrschte nur noch auf dem Marktplatz reges Treiben. „Wenigstens eine Kiwi will ich mir kaufen“, sagte Daniela aus Suhl. „Wie sieht die eigentlich aus?“, fragte Sven. „Wie eine grüne Kartoffel“, mutmaßte Silke.

    „Wir müssen dir ziemlich kindisch vorkommen“, meinte Daniela fast entschuldigend zum Main-Post-Mann. „Aber bei uns drüben kennen wir viele Sachen eben nur aus dem Fernsehen.“

    Auch an den folgenden Tagen steuerten zahlreiche Ostdeutsche Würzburg an. Allein am Freitag, 17. November, verzeichnete die Stadt 1165 Besucher, die sich ihr Begrüßungsgeld abholten. Seit Öffnung der Grenze hatten sich 6700 DDR-Bürger ihre 100 Mark im Büro für Bürgerhilfe auszahlen lassen. Am Wochenende 18. und 19. November kamen weitere 4000 Ost-Bürger an den Main. Diesmal waren die Würzburger Geschäftsleute gewitzter und viele Läden blieben am Samstag bis zum Abend offen. Dazu hatte sogar die für den Einzelhandel zuständige Gewerkschaft HBV (heute ver.di) ihren Segen gegeben.

    Die Städtische Sparkasse beschloss kurzfristig, für DDR-Bürger, die ihre Ostmark in D-Mark umtauschen wollten, die Zweigstelle in der Domstraße am Samstag zu öffnen.

    Für das zweite Wochenende hatten Würzburger dem Freundeskreis Würzburg-Suhl 410 Übernachtungsmöglichkeiten gemeldet. Auch Polizei und Rotes Kreuz halfen bei der Herbergssuche. Schüler des Siebold-Gymnasiums hatten schriftliche Orientierungshilfen für die Besucher entworfen. Ab Samstagmorgen verteilten sie die Info-Tipps an DDR-Bürger, die auf den Einfallstraßen nach Würzburg kamen. Inhalt der Zettel: Was ist wo am günstigsten zu kaufen, wo wird ein preisgünstiges Essen serviert und wo sind Hilfeleistungen zu bekommen.

    Wer die Kennzeichen der Trabis und Wartburgs entzifferte, stellte fest: Die überwiegende Mehrzahl der Nummernschilder begann mit einem „O“ für den Bezirk Suhl.

    Zum deutsch-deutschen Tratsch-Treffpunkt entwickelte sich der Domplatz, wo das Rote Kreuz und die Wasserwacht das ganze Wochenende über Tee und heiße Suppe verteilten.

    „Wie ist eigentlich die Stimmung, was uns DDRler betrifft?“ fragte ein 26-jähriger Hochbau-Student aus Suhl am zweiten Wochenende einen Würzburger. „Gibt es schon die ersten Leute, die wegen der 100 DM Begrüßungsgeld aus dem Steuertopf und der verlängerten Arbeitszeiten meckern?“

    Damals meckerte noch niemand. Doch die große Euphorie, die zunächst herrschte, blieb nicht lange erhalten. Und heute, 20 Jahre später? Bernd Höland löst demnächst seinen Freundeskreis Würzburg-Suhl auf, der in Suhl viel humanitäre Hilfe geleistet hat und regelmäßige Rennsteig-Wanderungen veranstaltete. Der Grund: mangelndes Interesse bei den Würzburgern.

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