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WÜRZBURG: Attentat: Wie Journalismus in Echtzeit gelingen kann

WÜRZBURG

Attentat: Wie Journalismus in Echtzeit gelingen kann

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    Die Pressekonferenz zum Attentat in Heidingsfeld. In das Polizeipräsidium in die Zellerau kamen neben vielen deutschen Fernseh-, Hörfunk-, und Zeitungsjournalisten auch zwei Reporter des chinesischen Senders CNC.
    Die Pressekonferenz zum Attentat in Heidingsfeld. In das Polizeipräsidium in die Zellerau kamen neben vielen deutschen Fernseh-, Hörfunk-, und Zeitungsjournalisten auch zwei Reporter des chinesischen Senders CNC. Foto: Theresa Müller

    Als am Montagabend gegen 21.15 Uhr der 17-jährige afghanische Flüchtling Riaz Khan Ahmadzai in Würzburg ein Attentat verübte, war ein Teil unserer Zeitungsausgaben bereits gedruckt. Die Maschinen wurden gestoppt und die Erkenntnisse über das schreckliche Geschehen bis etwa 1.20 Uhr aktualisiert – für die Redaktion ein Standard, der seit Jahrzehnten bei nachrichtlichen Ausnahmesituationen eingespielt ist. Doch es griffen an diesem Abend auch Mechanismen und Arbeitsweisen, die sich erst in den vergangenen Jahren etabliert haben und die zeigen, wie sehr sich Journalismus verändert.

    Früher haben vor allem Zeitungsjournalisten meist konzentriert recherchiert, bis die Nachrichtenlage so klar war, dass daraus ein Artikel entstehen konnte. Heute erwarten Nutzer auf digitalen Endgeräten wie Smartphones Journalismus in Echtzeit. Gerade in sozialen Netzwerken sind Journalisten dabei auch ständige Moderatoren. Die Redaktion der Main-Post ist darin geübt: Bei Großereignissen wie der Fußball-EM berichtet sie über Wochen in sogenannten Live-Tickern vom Ort des Geschehens. Auch bei regionalen Unglücken und Katastrophen, wie zuletzt dem Brückeneinsturz bei Werneck, berichten Reporter live auf allen Kanälen.

    Und doch waren diese veränderten Ansprüche an Qualitätsjournalismus in der Redaktion der Mediengruppe Main-Post noch nie so intensiv zu spüren, wie in den Stunden nach dem Attentat in Würzburg.

    Die Nutzer beschweren sich, weil sie für Informationen bezahlen sollen

    Am Tatort ist am Montagabend zunächst nur ein Reporter im Einsatz. Als die Dimension des Geschehens deutlich wird, holt die Redaktion nach und nach Kolleginnen und Kollegen aus dem Feierabend zurück. Auf der Facebook-Seite beschweren sich Nutzer direkt nach der ersten Veröffentlichung, dass die Beiträge auf mainpost.de hinter der Bezahlschranke liegen (Wer auf mainpost.de mehr als fünf Artikel im Monat lesen will, muss für Inhalte bezahlen). Viele Menschen sind in Angst und Sorge, weshalb die Redaktion spontan alle Beiträge zum Amoklauf vor die Bezahlschranke legt.

    Nutzer bedanken sich. Die meisten erwarten, dass die Redaktion schon mehr weiß oder aber Informationen bestätigt oder korrigiert, die sie auf anderen Wegen erreicht haben. Die Fragen und Hinweise der Nutzer, die nahezu im Sekundentakt eingehen, arbeitet die Redaktion in die Recherchen ein. Zu jedem Zeitpunkt gibt es einen Kollegen, der die Beiträge in den sozialen Netzwerken moderiert, filtert, beantwortet und bei Verstößen gegen die Regeln auch löscht.

    Die Reporter liefern währenddessen ständig kurze Ergebnisse ihrer Recherchen in die Redaktion, wo alle Informationen gebündelt und mit anderen Quellen abgeglichen werden. Am Montagabend gab es beispielsweise etwa 20 Minuten lang widersprüchliche Aussagen darüber, ob der Täter erschossen wurde, oder ob er noch auf der Flucht sei. Teil des seriösen Journalismus ist es dann auch, klar zu sagen: „Wir wissen es noch nicht.“ Andere Hinweise lassen die Redaktion nachdenken: Das Wort „Amoklauf“ sei verharmlosend, wir sollten „Terroranschlag“ schreiben, meint ein Nutzer.

    Die Chefredaktion entscheidet, dass die Nationalität des Täters genannt wird

    In der Zwischenzeit entscheidet die Chefredaktion, dass fortan die Nationalität des Täters in allen Beiträgen genannt werden kann, weil nach einer Pressekonferenz mit Innenminister Joachim Herrmann ausreichend absehbar ist, dass die Herkunft des Täters im Zusammenhang mit seiner Tat steht.

    Auf mainpost.de und in der Main-Post-News App, die erst an diesem Montag auf den Markt gekommen war, ist mittlerweile ein kontinuierlicher Nachrichtenstrom entstanden – mit dem Ergebnis, dass zwei Server überlastet sind und mainpost.de sowie die News-App für knapp eine Stunde nur eingeschränkt erreichbar sind. In diesem Zeitraum informiert die Redaktion direkt auf Facebook.

    Gegen 0.30 Uhr fährt ein Reporter zur s.Oliver-Arena. Dort werden Menschen versorgt, die in dem Zugabteil saßen, in dem der Täter das Blutbad anrichtete. Es entsteht kurz darauf ein Live-Video, in dem eine Helferin der Malteser die Situation vor Ort beschreibt.

    Bis 4.30 Uhr schreiben zwei Kollegen an Hintergrundtexten

    Auch das ist ein neues Selbstverständnis: Die Unterscheidung zwischen TV, Hörfunk und Print löst sich auf digitalen Kanälen auf. Der journalistische Auftrag, sorgfältig zu recherchieren und unaufgeregt zu informieren, gilt aber selbstverständlich in jedem Format, bei jedem Tempo.

    Chefredakteur Michael Reinhard sagt mit zwei Tagen Abstand: „Bei allem, was wir bisher wissen, können wir sagen, dass wir trotz extrem unüberschaubarer Nachrichtenlage zu keinem Zeitpunkt falsch informiert haben. Wir haben mit mancher Veröffentlichung länger gewartet als andere Medien, hatten dafür aber die Gewissheit, dass unsere Informationen stimmen.“

    Am Dienstagmorgen gegen 2 Uhr aktualisiert die Redaktion vorläufig das letzte Mal. Bis 4.30 Uhr schreiben zwei Reporter Hintergrundartikel, die ab etwa 6.30 Uhr auf mainpost.de veröffentlicht werden. Um 4 Uhr macht sich eine ausgeruhte Reporterin auf den Weg für weitergehende Recherchen.

    Am Morgen nach der Tat richtet die Redaktion auf mainpost.de einen Live-Ticker ein.

    In diesem Format laufen konstant einzelne, auch unsortierte Informationen ein, die sich mit zeitlichem Abstand wie eine Chronologie lesen werden. Dieser Ticker bleibt bis auf Weiteres kostenfrei. Die hintergründigen Artikel zu der Bluttat liegen seit dem Morgen danach wieder hinter der Bezahlschranke.

    Unter dem Bekennervideo entsteht eine Hassdebatte

    Trotz aller Sorgfalt bleiben Fehler nicht aus: Am Dienstagmorgen veröffentlicht die Redaktion auf einer Facebookseite einen Beitrag über die Geschehnisse der Nacht, der reißerisch wirkt und keinen erkennbaren informativen Nutzen hat. Als Nutzer sich zu Recht über das blutige Bild und den boulevardesken Kurztext beschweren, entschuldigen wir uns und löschen das Posting.

    Am Dienstagabend stellt die Redaktion das Bekennervideo des Täters bei Facebook samt einer sinngemäßen Übersetzung ein.

    Bis dahin waren die Kommentare und Diskussionen rund um den Anschlag moderat und konstruktiv. Doch unter dem Video entsteht eine Hassdebatte, deren Moderation nahezu unmöglich wird. Außerdem will die Main-Post diese Art von Forum nicht bieten. Der Beitrag wird gelöscht, das Video liegt weiterhin im bezahlten Bereich auf mainpost.de, wo die Moderation deutlich einfacher ist.

    Der Blick auf die Arbeit der Redaktion in dieser Woche zeigt, wie unaufgeregt und selbstverständlich dieser veränderte Journalismus sein kann. Mehr Freude macht er ganz sicher mit besseren Nachrichten als denen der vergangenen Tage.

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