Als Infektiologe und Tropenmediziner ist er derzeit einer der gefragten Experten: Prof. August Stich, Vorsitzender des Missionsärztlichen Insituts und Chefarzt an der Missio-Klinik unter dem Dach des Klinikums Würzburg Mitte, hat am Robert-Koch-Institut unter anderem an einer Corona-Handreichung für Ärzte mitgearbeitet. Er verfolgt die Entwicklung der Pandemie seit Jahresbeginn. Hat er die Gefahr unterschätzt?
Frage: Herr Stich, vor acht Wochen haben Sie in einem Interview mit unserer Redaktion zum Coronavirus vor Panikmache gewarnt. Hat sich Ihre Einschätzung in der Zwischenzeit geändert?
August Stich: Wir haben seit Januar viel dazugelernt. Zum Beispiel, dass sich das Virus tatsächlich sehr effizient ausbreitet. Es ist ihm gelungen, aus China "herauszuspringen". Im Januar waren es nur einzelne Fälle außerhalb dieses Landes und man konnte hoffen, dass es auf China beschränkt bleibt. Ab Mitte Februar war dann die weltweite Ausbreitung nicht mehr zu stoppen. Und damit hatten wir die neue Situation einer Pandemie.
Also treffen Sie heute eine andere Bewertung als vor einigen Wochen?
Stich: Ja insofern, als wir die Pandemie heute vor der Haustür haben und die Ausbreitung des Virus außer Kontrolle geraten ist.
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Hat Sie die Entwicklung überrascht?
Stich: Überrascht ja. Obwohl wir seit Jahren immer von der Möglichkeit einer Pandemie gesprochen haben. Es war nie eine Frage des Ob, sondern nur des Wann. Dennoch haben wir gehofft, dass wir so was nie erleben würden. Jetzt haben wir die Pandemie in vollem Umfang – allerdings mit einem Virus, das in den allermeisten Fällen nur eine milde Symptomatik zeigt. Deshalb kann man der Situation mit einer gewissen Gelassenheit gegenüberstehen.
Immer noch?
Stich: Ich finde die aktuell getroffenen Maßnahmen vollkommen richtig, auch vom Zeitpunkt her. Hätte man im Januar schon die Schulen schließen und das öffentliche Leben einschränken wollen, wäre das politisch nicht durchsetzbar gewesen. Jetzt sagen manche Leute, die Maßnahmen kämen zu spät. Andere meinen, wir würden damit die Gesellschaft und unser soziales Gefüge zerstören. Beides halte ich nicht für zutreffend.
Als wir noch keinen Fall in Deutschland hatten, haben Sie unser Gesundheitssystem für gut vorbereitet gehalten. Sehen Sie das immer noch so?
Stich: Ich erlebe, dass sich die Kliniken gerade hier im Würzburger Raum in einer nie dagewesenen Weise gemeinsam aufstellen und rüsten. Man versucht nach Kräften, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Und das bedeutet, dass man mit brachialer Gewalt die planbaren Operationen herunterfährt, den Routinebetrieb aussetzt, um sich voll auf Corona-Patienten zu konzentrieren. Man hält Kapazitäten vor, weil wir aktuell von noch höheren Patientenzahlen ausgehen müssen. Im Moment scheint die Vorbereitung Schritt zu halten mit der tatsächlichen Entwicklung – im Gegensatz zu Italien, Spanien oder Frankreich, wo die Gesundheitssysteme erst reagiert haben, als die Patienten schon in großer Zahl da waren.

Sie haben ja vor Wochen schon einen „Stresstest“ für unser Gesundheitssystem erwartet. Denken Sie, wir bestehen ihn?
Stich: Ich bin guter Hoffnung, weil so viele von uns gut zusammenarbeiten. Aber: Wir alle haben das noch nicht erlebt. Wir wissen nicht, wo die Reise hingeht und wie lange dieser Stresstest wirklich anhält. Im Moment habe ich das Gefühl, dass wir es ganz gut hinbekommen – allerdings mit großen Opfern. Diese Opfer sind Menschen, die jetzt auf eine OP warten. Oder es sind die massiven wirtschaftlichen Einbußen für viele Mitbürger. Und: Es wächst der Druck auf unsere alten Patienten, die niemandem einen Behandlungsplatz wegnehmen wollen. Das ist ein ethisch-moralisches Dilemma, in dem sich unsere Gesellschaft bewähren muss. Wir müssen uns um diese hilfsbedürftigen Menschen besonders kümmern.
Aber wenn man sich den Mangel an Schutzausrüstung anschaut: Wie gut sind wir wirklich aufgestellt? Läuft da etwas schief?
Stich: Nein, das finde ich nicht. Man kann nicht alles Notwendige für so einen Ausnahmefall in Riesenmengen bunkern. Stellen Sie sich vor, man müsste ständig darauf vorbereitet sein, dass ein Jumbo-Jet auf Würzburg abstürzt. Dann hätte man hunderte Brandverletzte optimal zu versorgen, was gar nicht geht. Wir können gar nicht Schutzkleidung, Teströhrchen usw. für jede Eventualität vorhalten. Wichtig ist, dass im Ernstfall die ganzen Mechanismen und das Miteinander funktionieren. Und das tun sie derzeit im Klinikbetrieb.
Wie kommen Sie aktuell zurecht?
Stich: Beide Standorte, also Juliusspital und Missio, haben Covid-Patienten, ebenso natürlich die Uniklinik. Wir haben immer noch Aufnahmekapazitäten und versuchen, dynamisch mit der Belegung durch Covid-Patienten bei anderen Tätigkeiten herunterzufahren. Das funktioniert gut. Das Hauptproblem sehe ich im Moment in der Versorgung ambulanter Patienten, der Seniorenheime, in der Überforderung der Hausärzte und des Dienstes der Kassenärztlichen Vereinigung – hier ist Nachbesserungsbedarf. Hausärzte sind nicht in der Pandemiebekämpfung eingeübt und haben deshalb nur eine sehr begrenzte Menge an Schutzkleidung.
Haben Sie genug davon in der Klinik, um das Personal zu schützen?
Stich: Ja, wir haben genug – aber auch nicht für einen unbegrenzten Zeitraum. Wir sind darauf angewiesen, dass Nachbestellungen klappen und müssen mit allem sparsam umgehen. Aber echte Engpässe hatten wir noch nicht.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass bekannte Malaria-Medikamente in Abwandlung auch bei der Behandlung von Coronavirus-Patienten wirken?
Stich: Aktuell werden verschiedene Medikamente zur Behandlung der Covid-19-Patienten diskutiert: Chloroquin und seine Weiterentwicklung Hydroxy-Chloroquin, Lopinavir und vor allem Remdesivir. Wahrscheinlich werden sie in ihrer Bedeutung überschätzt. Wir brauchen solide, wissenschaftlich erhobene Daten, bevor man eine fundierte Empfehlung herausgeben kann. Es wäre unbegründet, jetzt eines dieser Medikamente vorschnell einzusetzen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein? Greifen die restriktiven Maßnahmen der Regierungen?
Stich: Ich glaube schon. Man kann es aber noch nicht sagen. Patienten, die jetzt kommen, haben sich bereits vor sieben bis zehn Tagen infiziert – also zu einem Zeitpunkt, als die aktuellen Regelungen noch nicht galten. Entscheidend werden die nächsten Tage sein. Dann lässt sich eher abschätzen, wie sich die Lage in Bayern und in Deutschland weiterentwickelt.
Wann wäre eine Lockerung der Maßnahmen aus medizinischer Sicht vertretbar?
Stich: Wir müssen immer genügend Aufnahmekapazität für die Neuerkrankten haben. Erst Ende nächster Woche kann man ungefähr einschätzen, wie lange die Maßnahmen weiterlaufen sollten. Wir müssen auf Sicht fahren, das heißt, ständig die Entwicklung der Neuerkrankungen im Blick haben und unser Gesundheitssystem immer wieder neu justieren.
Das ist die klinische Seite. Aber wann wäre eine Öffnung der Schulen, wann wären Veranstaltungen wieder denkbar?
Stich: Wenn man das Gefühl hat, dass sich die Pandemie kontrollieren lässt. Das heißt nicht, dass es dann keine Fälle mehr gibt, aber dass wir sie kennen und durch Isolation und Quarantäne wieder begrenzen können. Im Augenblick ist die Situation noch außer Kontrolle.
Mit Blick in Ihre persönliche Glaskugel: Wann könnten wir das Schlimmste überstanden haben?
Stich: Das lässt sich im Moment wirklich nicht sagen. Fragen Sie mich in zehn Tagen nochmal, dann kann man es vermutlich besser abschätzen. Für die nächsten Tage ist die entscheidende Frage, ob wir die Zahl der Neuerkrankungen verringern können und wie unser gesamtes Gesundheitssystem dann funktioniert. Im Moment muss man wirklich an die Bevölkerung zur Solidarität und zum Durchhalten appellieren.