Im Dezember 1981 berichtet das Stadtmagazin „Pupille“, was dem beschaulichen Würzburg droht. Ein „Verein zur Förderung von Bildung und Kultur“ wolle „autonome Kultur“ in die Stadt bringen, unabhängig, „ohne Zensur und ohne Kompromisse“. Sie werde „nicht von einigen wenigen Leuten für viele gemacht“, sondern „von allen für alle“, selbstverwaltet, ohne Chef. Schauplatz: eine ehemalige Autowerkstatt in der Martin-Luther-Straße 4.
Für die Linken und Alternativen ist Würzburg am Anfang der 80er Jahre ein ödes, leeres Kaff. Außerhalb des bürgerlichen Kulturangebots gibt es den Omnibus für Folkfans, die heimatlose Studiobühne des Wolfgang Schulz, den braven Salon 77, die fahrenden Kindertheatertruppen Hobbit und Mobiles Theater Spielberg, dazu Rock- und Jazzbands mit viel zu wenigen Auftrittsmöglichkeiten.
Einziger Treff einer Polit-Szene aus Friedensbewegten und Umweltschützern, AKW-Gegnern, Kriegsdienstverweigerern, undogmatischen und dogmatischen Linken ist das kleine WuF in der Burkarder Straße. Die Szene ist groß. Die Arbeitsgemeinschaft, die Anfang der 80er Jahre die zweiwöchigen Friedenstage organisiert, besteht aus über 50 Gruppierungen, Organisationen und Parteien.
Jörg Töppner, heute Wortführer der Bürgerinitiative, die die Mozartschule erhalten will, war damals in einer Umweltgruppe aktiv. Er berichtet, die Szene habe „nicht nur politisch agiert, sondern auch kulturell.“
Sie setzte eine Entwicklung fort, die mit den Ideen der 68er begann. Die 70er waren die Zeit des Experimentierens, die 80er die Zeit des Handelns. Töppner sagt, „die Szene hat sich ihre Orte selbst geschaffen.“
Tatsächlich beschert sie Würzburg eine kulturelle Gründerzeit: 1981 eröffnet die Werkstattbühne, 1983 das Chambinzky, im selben Jahr lässt sich das Theater Spielberg nieder. 1984 folgen das Theater am Neunerplatz und das Jazz-Festival, 1988 Umsonst & Draußen, 1989 Kulturjahrmarkt und Africa Festival. Und die Zahl der Bands wächst rapide.
Am 14. Februar 1982 öffnet das Autonome Kulturzentrum Würzburg. Sieben Jahre vor dem Mauerfall befindet sich die Bundesrepublik im Kalten Krieg, das prägt auch Würzburg. Konservative beobachten argwöhnisch, was sich in der Martin-Luther-Straße zusammenbraut. Zwei Wochen nach der AKW-Eröffnung kassiert das Finanzamt den Status der Gemeinnützigkeit ein, auf Initiative des CSU-Kreisvorsitzenden Wolfgang Bötsch. Der hatte ein Plakat von Startbahn-West-Gegnern entdeckt, die zum Vorbereiten einer Bauplatzbesetzung ins AKW einladen. Bötsch meint, wer rechtswidrige Handlungen unterstütze, könne nicht gemeinnützig sein, und das Finanzamt folgt ihm. Der Schaden fürs AKW ist gering. Dessen Publikum verfügt nicht über Geld fürs steuerbegünstigte Spenden.
Das AKW ist Mittelpunkt einer links-alternativen Szene in Aufbruchstimmung, mit anderer Musik, anderem Theater und anderer Politik. Die Band „Fehlfarben“ besingt das Lebensgefühl: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht! Es geht voran!“ Sie irrt. Helmut Kohl wird Bundeskanzler und bringt die „geistig-moralische Wende“ mit.
1982 herrscht das Chaos im 300 Quadratmeter großen, eingeschossigen Hinterhofgebäude. Wie viele Leute mitarbeiten – zapfen, putzen, Programm planen, bauen, reparieren, Buchhaltung führen, an der Eintrittskasse sitzen, Kinder betreuen – weiß niemand; es sind über 100. Geld gibt's keines, einen Chef auch nicht. Höchstes Entscheidungsgremium ist die monatliche Vollversammlung, an der jeder, ob Mitarbeiter oder nicht, mit Stimmrecht teilnehmen kann. Und der Tatendrang der Szene explodiert. Im ersten Jahr veranstaltet sie über 200 Konzerte, Theateraufführungen, Solidaritätsparties, Polit-Diskussionen, Frauen-Cafés, Hausaufgabenbetreuungen, Workshops und so weiter.
1985 resümiert das AKW gegenüber der Presse, die Mitarbeiter seien „nicht die letzten“ gewesen, „die sich darüber wunderten, dass dieser muntere Laden nicht das Opfer eines Kollapses wurde“. Nach der ersten Euphorie „verhinderte das allgegenwärtige Chaos mehr und mehr eine effektive Arbeit, weil die eine linke Hand nicht wusste, was die andere gemacht hat.“
Als eine trinkfreudige Vollversammlung das Senken der Bierpreise beschließen will, revoltieren die Mitarbeiter. Das AKW bekommt keine Zuschüsse, die Kultur wird aus dem Zapfhahn finanziert, es geht um die Existenz des Ladens. Sie putschen, setzen die Vollversammlung ab und bringen ab 1983 als Kollektiv Ordnung ins Chaos: zwei Dutzend Männer und Frauen, bunt zusammengewürfelt, zwischen 20 und 40 Jahren alt. Ihr Konzept: „Kultur für alle“, Emanzipation, gesellschaftliche Teilhabe und hierarchiefreies Arbeiten. Die heterogene Truppe wird zusammengehalten von einer diffusen Sehnsucht nach neuen Arbeits-, Lebens- und Gesellschaftsformen. Mitte der 80er Jahre zählen die AKWler zwischen 4000 und 5000 Stammgäste. Töppner ist einer von ihnen, weil das AKW „die Schnittstelle für verschiedenste Aktivitäten und Gruppen“ ist. Erst lockt ihn die Politik, dann immer mehr die Kultur.
Unter den Gästen tummelt sich der Studienreferendar Gabriel Engert, ein CSU-Mitglied. Ende der 80er Jahre, als der Mietvertrag ausläuft und die AKWler neue Räume suchen, wird Engert als städtischer Kulturamtsleiter einer ihrer wichtigsten Unterstützer. Das half, sagt er heute, „weil das AKW ein sehr gutes Programm gemacht und den Kulturbegriff auf eine zeitgenössische Art definiert hat“. Der Ansatz des AKW habe „ermöglicht, viele gesellschaftliche Themen kulturell zu bearbeiten. Die haben das super gemacht. Außerdem waren es nette Leute.“
Engert ist seit 21 Jahren Kulturreferent in Ingolstadt und immer noch CSU-Mann.
Ab Mitte der 80er spricht sich in Würzburg herum, dass das, was das AKW macht, unter dem Begriff „Soziokultur“ ein deutschlandweites Phänomen ist. Es etabliert sich mit bis zu 100 000 Gästen im Jahr. Am 30. Januar 1990 feiert es seine letzte große, wilde Party.
Am 7. Februar 1990 wird das Haus abgerissen. Am 3. Juli 1992 eröffnet das AKW neue Räume auf dem Bürgerbräu-Gelände, wo es am 12. April 2009 für immer schließt.
Unser Autor berichtet aus eigener Erfahrung: Er arbeitete von 1982 bis 1992 im AKW.