Günther Klebinger kommt im Frühjahr 2014 vom Einkaufen, als sein Blick zufällig an einer Halle hängen bleibt. Zwischen Parkplätzen und Geschäften, zwischen wuselnden Menschen und Autos steht . . . eine leere Halle. Die Fenster sind eingeschlagen, Grünzeug rankt an der Fassade, davor liegen alte Autoreifen und Müll. „Was war da wohl mal drin?“, fragt sich der Würzburger. Er kommt mit seiner Kamera zurück zur Halle und schaut sich um.
Seitdem haben „Lost Places“ den 42-Jährigen nicht mehr losgelassen. Als „Mischung aus Schatzsuche und Geschichte entdecken“ beschreibt er seine Motivation, solche „vergessenen Orte“ zu finden und sie zu fotografieren.
„Leider war ich nicht der Erste in der Halle“, erzählt Klebinger von seinen Schritten in seinem ersten „Lost Place“, der verlassenen Industrieruine in Heidingsfeld. Er findet besprühte Wände, kaputte Flaschen und aus den Wänden gerissene Waschbecken – „auf Spuren von Vandalismus trifft man leider häufig“. Doch zieht die ehemalige Lackiererei ihn sofort in ihren Bann. „Ein paar Meter weiter läuft das normale Leben, aber hier drin ist die Zeit stehen geblieben.“
Verblichene Arbeitspläne, eine Schalttafel, verrostete Werkzeuge sind die Zeugen vergangener, belebter Zeiten, in denen hier Maschinen gerattert und Menschen gearbeitet haben. Jetzt ist es still. Nur der Verfall geht voran und die Arbeit der Natur. Schimmel und Algen besiedeln die Wände, Knöterich drängt durch die Löcher der Sprossenfenster, Löwenzahn bricht Ritzen in den Beton.
Klebingers Bilder fangen diese Stimmung ein. Sie zeigen den morbiden Charme des Verfalls, schöne Details des Verrottens. Sie sind traurig und faszinierend, weil sie an das Leben erinnern, das sich dort einst abgespielt hat. Manchmal bleibt Klebinger einige Stunden in einer Industrieruine und wartet auf den Moment, bis das Licht auf einen verrosteten Topf fällt, durch ein zerbrochenes Fenster scheint oder ein Graffiti leuchten lässt. „Ich genieße die Ruhe, die Einsamkeit um mich herum.“
Seit 2007 beschäftigt sich der Mitinhaber einer in Veitshöchheim ansässigen Werbeagentur intensiv mit Fotografie. Er fotografiert Konzerte beim Africa Festival und beim Umsonst & Draussen. Auf seiner Homepage zeigt er Bilder von Flüchtlingen, Reisen und eben verlorenen, vergessenen Orten. In der Szene bekannte Plätze sind zum Beispiel die Charlott-Terrassen, ein ehemaliges Tanzlokal am Nikolausberg, die ehemalige Feuerwehrschule in der Nürnberger Straße oder ein verlassener Biergarten in der Leistenstraße. Auch der historische Gutshof in Öttershausen im Landkreis Kitzingen ist ein „verlassener Ort“. Vor vier Jahren wurden allerdings große Teile davon abgerissen.
Mittlerweile hat Klebinger seinen Radius erweitert. Er fährt ins Schieferdorf, ein komplettes, verlassenes Örtchen in Thüringen oder macht sich in Belgien auf die Suche nach verfallenden Châteaus oder Tuberkulose-Sanatorien. Wie die heißen und wo man sie findet? Solange die von ihm entdeckten Orte allgemein noch recht unentdeckt sind, will Klebinger das nicht verraten. „Das ist eine Regel in der Szene, um die Bauten vor Vandalismus zu schützen.“ Weiteres Gesetz: nichts verändern oder zerstören.
Denn der Verfall soll nicht gestört werden.
Lost Places
Der englische Ausdruck „lost place“ steht für „vergessener Ort“. Meistens sind dies nicht mehr genutzte Bauten aus der jüngeren Geschichte, häufig Industrieruinen oder nicht mehr genutzte militärische Anlagen. Orte, die kein allgemeines Interesse mehr finden, nicht als besonders erwähnenswert gelten. Es gibt immer mehr Menschen, die solche Orte besuchen und dort fotografieren. Sie tauschen sich in Internetforen darüber aus – meist ohne die Identität der „lost places“ zu verraten. Da das Betreten der Plätze rechtlich manchmal in der Grauzone liegt, bleiben auch die Nutzer der Foren oft lieber anonym . Für „lost places“ interessieren sich auch „Geocacher“, die per GPS versteckte Schätze suchen.