Heiner Wilmer, 58, war Generaloberer der Herz-Jesu-Priester in Rom, einer weltweit aktiven Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche. Dann wurde er vor etwas mehr als einem Jahr überraschend Bischof von Hildesheim – und bundesweit bekannt für seine deutlichen Worte. Während des Gesprächs rutscht dem Niedersachsen manchmal ein „Du“ heraus – wohl eine Angewohnheit aus seiner Zeit als Lehrer.
Frage: Herr Wilmer, stimmt es, dass Sie Papst Franziskus angerufen hat, um Ihnen mitzuteilen, dass Sie zum Bischof ernannt werden?
Heiner Wilmer: Ja, Papst Franziskus hat mich angerufen, und später war ich bei ihm in Rom und habe ihn gefragt, was ich in Hildesheim soll. Er sagte mir: „Ich möchte, dass du ein Bischof bist, der bei den jungen Menschen ist. Der kein Verwalter ist, sondern ein echter Seelsorger; der erreichbar und zugänglich ist, auch für ältere Menschen.“ Ich hörte heraus: Sei nah an den Menschen!
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Sie haben sich Ihr Bistum dann systematisch erschlossen. Sie waren mit jungen Leuten unterwegs, hatten die Aktion „Dialog mit dem Bischof“ . . .
Wilmer: Ich hatte dabei immer zwei Fragen: Wohin soll ich das Bistum leiten? Und: Wie soll ich persönlich leben? Viele haben mir ihr Herz ausgeschüttet. Sie erzählten mir von ihren Ängsten. Und von ihrem Ärger mit der Kirche mit Blick auf die wiederverheirateten Geschiedenen, die vom Empfang der Beichte und Eucharistie ausgeschlossen sind. Sie erzählten mir von ihrem Ärger mit Blick auf den Umgang der Kirche mit homosexuellen Partnerschaften. Ihr wichtigstes Anliegen aber war die Rolle der Frau in der Kirche.
Hätten Sie erwartet, dass der Missbrauchsskandal einen Gutteil Ihrer Arbeitszeit beanspruchen wird?
Wilmer: Ich habe mich sicher in den ersten sechs, sieben Monaten fünf bis sechs Tage in der Woche mit dem Thema beschäftigt. Wir haben inzwischen sehr viele Empfehlungen aus einem Gutachten des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung umgesetzt. Es gibt jetzt zum Beispiel einen Kreis von nur noch externen Experten als Ansprechpersonen für Betroffene. Und dieser Kreis wird nochmals von externen Beratern unterstützt.
Einer Ihrer Vorgänger, Bischof Heinrich Maria Janssen, wurde beschuldigt, er habe ein Heimkind Ende der 50er Jahre aufgefordert, sich vor ihm auszuziehen. Wann rechnen Sie mit Ergebnissen einer unabhängigen Untersuchung zu diesen Vorwürfen?
Wilmer: Wir haben auch hier alle Akten nach außen gegeben. Ich will mir nicht nachsagen lassen, dass hier irgendetwas zurückgehalten wird. Ich rechne damit, dass im Sommer oder Herbst nächsten Jahres Ergebnisse vorliegen. Ich mische mich als Bischof überhaupt nicht ein. Die Anschuldigungen gegen Bischof Janssen sind erschütternd. Ich musste ihnen nachgehen.
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Wird sich die katholische Kirche noch zu Ihren Lebzeiten vom Missbrauchsskandal erholen können?
Wilmer: Der Missbrauchsskandal ist durchaus vergleichbar mit dem heftigen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755. Das Thema der sexualisierten Gewalt erschüttert das Gebälk, es geht direkt ins Herz der Kirche. Ich gehe nicht davon aus, dass das Thema innerhalb weniger Jahre ad acta gelegt werden kann. Ich glaube, die ganze Komplexität des Missbrauchsskandals haben wir immer noch nicht begriffen.
Wie meinen Sie das?
Wilmer: Dazu gehören auch die Fragen: Wie denken wir Gott? Wie denken wir die Kirche? Wir haben immer noch ein altes Kirchenbild, nämlich das der „perfekten Gesellschaft“ – obwohl das Zweite Vatikanische Konzil dieses Bild schon korrigiert hat. Die Kirche ist dem Konzil zufolge der Leib Christi, der liebenswert ist, aber auch anfällig. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen noch immer völlig verinnerlicht haben, die Kirche sei vollkommen und man darf nicht an ihrem Image kratzen. Dies hat dazu beigetragen, dass bestimmte Dinge nicht sein durften und man sie unter den Tisch gekehrt hat: Bloß nicht darüber reden, um nicht das Image der Kirche zu beschädigen!
Die deutschen Bischöfe beraten gerade darüber, Missbrauchsopfern bis zu sechsstellige Entschädigungssummen zu zahlen. Ende September hieß es, eine Entscheidung über Entschädigungsmodell und -höhe falle in „einigen Monaten“. Inzwischen heißt es, es sei komplex und man brauche Zeit. . .
Wilmer: Es stimmt, es ist deutlich komplexer, als es vielleicht in den Medien herüberkam. Der Begriff Entschädigung ist ja nicht ganz ohne. Manchen Betroffenen tut er auch sehr weh, manche sind entsetzt – weil sie sagen: „Der Schaden, der in meinem Leben angerichtet wurde, kann nie gutgemacht werden, auch nicht durch Geld. Und ich möchte nicht, dass sich die Kirche freikauft.“ Natürlich muss darüber gesprochen werden, wie wir als Kirche ihnen helfen können. Wir Bischöfe sind an dem Thema dran.
Wann wird es eine Entscheidung über Entschädigungszahlungen an Missbrauchsopfer geben?
Wilmer: Dazu vermag ich nichts zu sagen. Mir ist aber wichtig, dass die katholische Kirche keinen Alleingang unternimmt. Es wäre für mich fatal, würde sie wieder in diese alte Falle tappen. Wir brauchen eine echte Kommunikation mit den anderen großen Institutionen, allen voran mit den evangelischen. Sowie zudem mit den katholischen Ordensgemeinschaften und mit dem Staat. Wir müssen uns auch mit dem Justizministerium abstimmen, wie die Dinge zu regeln sind.