Dieser Mord ist bis heute nicht aufgeklärt. Der polnische Zwangsarbeiter Andrzej Rostecki wurde vor fast genau 75 Jahren, am 8. Juli 1942, in Würzburg getötet. Es gibt Hinweise, dass es sich bei dem Täter um den Psychiater Werner Heyde gehandelt haben könnte. Das haben jüngste Forschungen von Karen Nolte, Privatdozentin am Institut für Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg, ergeben. Heyde war ab 1939 Direktor der Universitätsnervenklinik Würzburg und von 1940 bis 1941 Obergutachter beziehungsweise medizinischer Leiter der nationalsozialistischen „Euthanasie-Aktion T4“.
Wenn der schwerkranke 24-Jährige, der laut Nolte weder gehen noch sitzen konnte, nicht auf dem Weg zum Amtsarzt umgebracht worden wäre, dann in Nürnberg. „Zynischerweise sollte er beim Amtsarzt angeblich auf seine Transportfähigkeit für die Fahrt zu seiner Exekution untersucht werden“, so Nolte.
Planlose Mordaktion
Andrzej Rostecki ist jedoch kein Opfer der „Aktion T4“. „Er verlor bei einer „planlosen Mordaktion“ sein Leben“, sagt Nolte. Andere Psychiatrie-Patienten wurden dagegen gezielt anhand von Meldebögen, die von Berlin aus an alle Heil- und Pflegeanstalten verschickt wurden, ausgewählt, anschließend mit grauen Bussen abgeholt und direkt oder auf Umwegen in Tötungsanstalten transportiert.
Die Abkürzung „T4“ leitete sich von der Adresse der Berliner Zentrale ab – Tiergartenstraße 4 – von wo aus die „Euthanasie“ des NS-Regimes organisiert wurde. Insgesamt wurde von 1939 bis 1941 über 200 000 Menschen ein sogenannter Gnadentod, meist durch Vergasen, gewährt.
Und dann wurden wehrlose Patienten getötet, weil sie lästig waren – wie Andrzej Rostecki. Damit ist sein Schicksal mit den vielen Menschen in den Konzentrationslagern verknüpft, die auf den Krankenstationen „abgespritzt“ worden sind. Rostecki ist laut Nolte das bislang einzige Opfer aus der NS-Zeit, „das direkt von einem Würzburger Psychiater – vermutlich von Heyde – getötet wurde“.
Die Medizinhistorikerin untersucht seit mehreren Jahren Patientenakten der Würzburger Universitätsnervenklinik. Darüber hinaus sichtet sie im Staatsarchiv Würzburg Gestapo-Akten und dazu die laut ihren Angaben „spärlich vorhandenen Quellen“ im Stadtarchiv“.
In den vergangenen Monaten widmete sich Karen Nolte dem Schicksal einer ganz bestimmten Patientengruppe. „Zwischen 1940 und 1944 wurden in der Universitätsnervenklinik insgesamt 32 polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen aufgenommen.“ Ungeklärt sind jedoch noch sechs Personen, die auf einer nach 1945 erstellten Liste des Auslandssuchdienstes stehen. Sie befindet sich im Stadtarchiv. Es fehlen jedoch weitere Unterlagen dazu.
Einblicke in die psychiatrische Praxis
Anhand der Dokumente erhält Nolte Einblicke in den Alltag der Menschen, ebenso in die psychiatrische Praxis im Umgang mit dieser Patientengruppe. Letzteres eigne sich gut, „um zu zeigen, inwieweit unter Heydes Direktorat rassebiologisch nationalsozialistische Konzepte Eingang in das Handeln der zu dieser Zeit in der Klinik tätigen Psychiater und Psychiaterinnen fanden“.
Die polnischen Zwangsarbeitenden wurden meist in landwirtschaftliche Betriebe im Umkreis von Würzburg eingesetzt; Andrzej Rostecki zum Beispiel ab dem 1. Mai 1941 in Ingolstadt, heute ein Ortsteil von Giebelstadt. Drei Monate war er dort beschäftigt, als sein ohnehin schon nicht mehr selbstbestimmter Lebensweg sich weiter einengte.
Am 3. August 1941 wollte Andrzej Rostecki in Bütthard Fotos für seine Arbeitskarte abholen. Ein Ausweis hätte mehr Bewegungsfreiheit bedeutet. Doch daraus wurde nichts. Die Fotos waren nicht fertig. Rostecki beschloss zu warten – mit der Folge, dass er erst gegen 20 Uhr wieder in Ingolstadt war. Der Bauer war wütend und ging mit einem Stock auf ihn los. Der junge Mann floh, hielt sich aber noch in Blickweite des Hofes auf.
„Auffälliges Benehmen“
Als er sah, dass der Bauer mit seinem Fahrrad in Richtung Giebelstadt fuhr, packte Andrzej Rostecki große Angst. Er befürchtete, der Landwirt würde zur Gendarmerie fahren. Rostecki versteckte sich, wurde aber nach ein paar Tagen von den Polizisten festgenommen und kam ins Gefängnis nach Würzburg. Einige Wochen später, am 20. Oktober 1941, brachte ihn ein Polizeibeamter in die Universitätsnervenklinik.
Der Grund steht im Aufnahmebuch: „Auffälliges Benehmen“. Zum Verhalten des Kranken zur Zeit der Aufnahme ist dort vermerkt: „Macht äußerlich keinen psychotischen Eindruck“ und „spricht kein Deutsch“. Der behandelnde Arzt bescheinigte dem „polnischen Landarbeiter“ später einen „ängstlichen Gesichtsausdruck“ und emotionale Ausbrüche.
Es ist die Diagnose, die letztlich über sein Leben und Sterben entschied: „Primitivreaktion“. Andrzej wurde durch sie zum „slawischen Untermenschen“. Ungünstig war auch, dass er kaum Deutsch sprach.
Die nächsten Monate in Rosteckis Leben waren bestimmt durch Suizidversuch, Flucht, erneute Verhaftung, Hungerstreik – bis er nur noch 44 Kilogramm wog und seinen Stuhlgang nicht mehr kontrollieren konnte. Dazu soll er die ganze Zeit vor sich hingeredet haben. Das alles führte, so Karen Nolte, jedoch nicht zu einer psychiatrischen Behandlung. Vielmehr habe sich Werner Heyde, der Direktor der Universitätsnervenklinik, an die Gestapo-Dienststelle in Würzburg gewandt, um den lästigen Pflegepatienten loszuwerden.
Laut Gestapoakte schrieb Heyde am 8. April 1942, man möge Rostecki nun endlich schnellstmöglich abholen, da die Universitätsnervenklinik „keine „Pflege- und Bewahranstalt für andersstämmige Untermenschen“ sei und man die Betten dringend für deutsche Volksgenossen brauche, berichtet Nolte.
Anklage wegen 100 000-fachen Mordes
Werner Heyde, geboren 1902, war bis zuletzt davon überzeugt, sich weder juristisch noch moralisch schuldig gemacht zu haben. Er habe nie etwas Böses gewollt. Dies hat er der Nachwelt in seinem Abschiedsbrief hinterlassen. Er beging am 13. Februar 1964 im Gefängnis Butzbach Suizid. Wenige Tage später wollte Generalbundesanwalt Fritz Bauer unter anderen gegen ihn den Prozess wegen 100 000-fachen Mordes eröffnen.
Heyde lebte nach Kriegsende viele Jahre in Schleswig-Holstein unter dem Pseudonym „Dr. Sawade“ – als Gutachter. Viele wussten damals, wer er war. Als seine wahre Identität aufzufliegen drohte, stellt er sich der Polizei.
Karen Nolte stützt sich bei ihrer Vermutung, dass Heyde der Mörder von Andrzej Rostecki ist, auf eine Gesprächsnotiz von einem Telefonat, das Kriminal-Obersekretär Vogel mit dem Klinikdirektor geführt habe. Sie lautet: „Auf Grund des fernmündlichen Ersuchens der Stapo Nürnberg wurde heute der Leiter der Psychiatrischen Klinik, Prof. Dr. Heyde, nochmals mündlich Rücksprache genommen. Er erklärte, dass er den Tod des Rostecki durch Eingabe eines Mittels oder durch Einspritzung in der Klinik im Hinblick auf das Ansehen der Klinik nicht herbeiführen könne. Er sei jederzeit bereit, ausserhalb der Klinik hierzu in jeder Weise behilflich zu sein. Es könnte dies an einem Ort oder auf einem Transport geschehen. Dies auf die geschilderte Art und Weise in der Klinik zu tätigen, sei ausgeschlossen, da er für das Ansehen der Klinik als Leiter geradestehen müsse und er ausserdem zur Aktion Kolumbus in Beziehungen stehe.“ „Kolumbus“ war der Geheimname für die „Gnadentod“- beziehungsweise „Euthanasie“-Aktion, informiert Karen Nolte. Und diese Notiz ist, so Nolte, ein Hinweis darauf, dass Heyde nicht nur ein „Schreibtischtäter“ gewesen sei.
Die offizielle Todesursache Rosteckis lautet „akute Herzlähmung“. Seine Leiche wurde der Würzburger Anatomie übergeben.
Ermittlungen der Staatsanwaltschaft 1974
Erst 1974 gab es Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth, um den Mord aufzuklären. Die Akte im Staatsarchiv Nürnberg sei spannend, weil der Staatsanwalt umfängliche und akribisch geführte Ermittlungen zu allen Würzburger Zwangsarbeitern eingeleitet habe. „Ziel war, die Gestapo-Beamten, die den Transport organisiert und begleitet hatten, wegen Beihilfe zum Mord anzuklagen“, sagt Nolte. Daraus wurde nichts.
Einer der Beamten, der auch an der Erschießung von 1000 Juden in Lemberg beteiligt gewesen sein soll, war bereits gestorben, erzählt Nolte von ihren Recherchen. Der andere erinnerte sich bei seiner Vernehmung nicht mehr an die Details. Und die die beiden wichtigsten Zeugen, die einst engen Mitarbeiter von Werner Heyde, die Assistenzärzte Helmut Schneider und Günther Munkwitz, konnten zum Mord am 8. Juli 1942 nicht befragt werden. Schneider war nicht auffindbar, Munkwitz, der es nach 1945 in der DDR bis zum stellvertretenden Klinikchef brachte, tot.
Stolpersteinverlegung am 29. Juni – Forschung an der Uni Würzburg In Würzburg findet am Donnerstag, 29. Juni, ab 9 Uhr die nächste Stolpersteinverlegung für 23 Opfer des Nationalsozialismus statt. Unter anderem für Menschen, die durch die „Euthanasie-Aktion-T4“ ermordet wurden: Andreas Treulein, Alfred Schwind, Margareta Schmitt und Anna Johanna Schmeißer. Um 14 Uhr wird am Margarete-Höppel-Platz 1 (vor der Uniklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie) der Stolperstein für Andrzej Rostecki verlegt. Eine öffentliche Lesung zur Stolpersteinverlegung beginnt um 19.30 Uhr in den Posthallen am Bahnhofsplatz in Würzburg: „Das Unsagbare beschreiben – Stimmen jüdischer NS-Opfer aus Unterfranken“ aus Anlass der 75. Jahrestage der Deportationen von 1941/1942. Infos: www.stolpersteine-wuerzburg.de Insgesamt 25 000 Patientenakten aus dem Zeitraum von 1925 bis 1952 befinden sich im Archiv der Universität Würzburg. Die Medizinhistorikerin Karen Nolte hat davon etwa 800 aus verschiedenen Jahren als Stichprobe ausgewählt und ausgewertet. Dazu gehören nicht vorrangig „Euthanasie-Opfer der „Aktion T4“ unter den Nationalsozialisten. Deren Akten stehen laut Nolte im Fokus des Arbeitskreises Stolpersteine Würzburg. Ihre Fragestellungen richten sich generell auf Aufnahme- und Entlassungsgründe, Anzahl der Entlassungen und Wiederaufnahmen, Verlegungsorte oder Diagnosen, Um herauszufinden, was für die Universitätsnervenklinik Würzburg spezifisch ist, untersucht Privatdozentin Nolte in dem auf mehrere Jahre angelegten Projekt auch Akten aus anderen Anstalten und Kliniken, zum Beispiel aus Lohr, Heidelberg und Göttingen. CJ
„Keine Pflege- und Bewahranstalt für andersstämmige Untermenschen“
„Euthanasie“-Gutachter Werner Heyde über die Würzburger Universitätsnervenklinik