Acht Jahre war er Parteivorsitzender, als Außenminister und Vizekanzler zählte Sigmar Gabriel zu den beliebtesten Politikern in Deutschland. Dann stellte ihn die neue SPD-Führung kalt. Nun erklärt er als Gastprofessor an der Uni Bonn den Studierenden die Welt – und zieht zu Vorträgen durch die Lande.
Am Montag war er auf Einladung von Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger zu Gast an der Uni Würzburg. Ein überfülltes Audimax lauschte gebannt seiner Analyse einer „unbequemeren Welt“ und der Rolle Deutschlands.
Im Interview mit der Redaktion zeigt sich Gabriel besorgt über die zugespitzte politische Lage, spricht über sein Verhältnis zur SPD-Spitze und seinen Ruf in die Privatwirtschaft.
Frage: Herr Gabriel, Sie sprechen von einem „Kampf um die Seele der Deutschen“. Wer kämpft denn hier?
Sigmar Gabriel: Zum einen diejenigen, die den Deutschen Angst vor der Welt machen wollen. Die uns einreden, dass der Rückzug aus der Welt, Germany first, die richtige Strategie und das Richtige für die Deutschen ist. Jene also, die an die nationalen Instinkte appellieren. Sie kämpfen mit jenen, die den Deutschen Mut machen wollen, sich in eine risikoreichere Welt einzumischen und nicht zu glauben, dass die Welt an uns vorbeizieht und wir uns raushalten können.
Einmischen über ein starkes Europa, das Sie beschwören – im Moment beobachten wir eher ein Auseinanderdriften…
Gabriel: Sicher ist Europa in einer ganz schwierigen Phase, sie gilt es zu überwinden. Gerade wir Deutschen müssten das größte Interesse daran haben, weil wir die größten Gewinner Europas sind. Wir sind deshalb Exportweltmeister, weil wir 60 Prozent der Güter und Dienstleistungen nach Europa exportieren und immerhin 44 Prozent in den Euroraum. Weltmeister ist man, wenn man mehr Geld einnimmt für die verkauften Waren als für das, was man kauft. Wir sind finanziell die Gewinner. Ein Verlassen des Euro, wie von der AfD gepredigt, ist ein Programm zur Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und zum Wohlstandsverlust. Manchmal beschleicht mich die Sorge, dass wir einmal mehr erst merken, was wir verloren haben, wenn es zu spät ist.
Wirkt sich die aktuelle Regierungskrise in Deutschland negativ auf den europäischen Schulterschluss aus? Spaltet sie?
Gabriel: Massiv! Wir müssen in dieser völlig verrückt gewordenen Welt, bei der uns die Amerikaner verloren gehen und neue Mächte wie China auftauchen, als Europäer zusammenhalten. Und in dieser Zeit riskiert die CSU einen Regierungssturz. Man muss wissen: Wenn Deutschland vibriert, dann bebt Europa. Deutschland ist zu groß und zu wichtig, um sich mit sich selber zu beschäftigen.

Wo ist denn eigentlich die SPD in dieser Regierungskrise? Sie wirkt unbeteiligt. Hat sie keine eigene Position?
Gabriel: Sie macht bei den Verrücktheiten dieser Regierungskrise nicht mit. Das ist schon mal gut. Die SPD ist der solide Anker dieser Regierung. Stellen Sie sich vor, die SPD würde sich an dem Chaos, der hier voran getrieben wird, auch noch beteiligen.
Aber eine eigene Haltung der SPD kann man doch erwarten. Wofür steht die Partei?
Gabriel: Für das, was im Koalitionsvertrag steht. Dort ist ja vereinbart, dass wir wieder mehr Kontrolle an Deutschlands Grenzen haben wollen. Es ist ja richtig gewesen, Ankerzentren zu schaffen, in denen man prüft, ob jemand die Möglichkeit hat, nach Deutschland einzureisen oder nicht. Warum richtet Horst Seehofer diese Ankerzentren nicht ein? Er hat sie ja mitunterschrieben. Im Kern haben sowohl Frau Merkel als auch Herr Seehofer Recht: Seehofer dort, wo er Kontrollen der Grenzen fordert – und Frau Merkel dort, wo sie auf die Absprache mit den Europäern pocht. Sonst haben wir vagabundierende Flüchtlingsgruppen innerhalb der europäischen Grenzen. Dafür ist das Ankerzentrum zur Prüfung genau das richtige Instrument. Statt dies umzusetzen, wird eine völlig verantwortungslose Regierungskrise herbeigeführt, die wirklich gefährlich ist.
Wie sehen Sie die Lage Ihrer Partei, der SPD, wenn es zu einem Koalitionsbruch und Neuwahlen käme?
Gabriel: Da mache ich mir nicht Sorgen um die SPD, sondern um Deutschland und Europa. Denn das Zündeln der CSU wird dramatische Konsequenzen für uns alle haben.
Das aber auch für die SPD sehr gefährlich sein kann. Glaubt man Umfragen, dann sitzen die einzigen Profiteure der aktuellen Krise am rechten Rand.
Gabriel: Das gilt für alle demokratischen Volksparteien. Wenn wir einen Regierungssturz und das Ende der Koalition zulassen, sitzen die Profiteure am rechten Rand. Deswegen hören Sie auch nichts von der AfD.
Die SPD hat sich zuletzt mit ihrer Vergangenheit und dem schlechten Wahlabschneiden beschäftigt. Ein Gutachten macht Sie zum Sündenbock. Fühlen Sie sich so?
Gabriel: Ich will das nicht bewerten. Wenn die jetzige SPD-Führung einen Schuldigen braucht und sie sich dabei besser fühlt – einverstanden. Ich habe dem „Spiegel“ schon gesagt: Ich werde ein Testament schreiben, dass ich ausgestopft werde, und dann können sie mich in den Keller des Willy-Brandt-Hauses stellen und immer herausholen, wenn sie einen Schuldigen brauchen.
Wie kann man sich Ihr Verhältnis zur neuen SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles und zu Martin Schulz vorstellen?
Gabriel: Martin Schulz und ich verweisen immer gern auf die Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Die hat immer noch Erfolg. Wir beide haben ein ziemlich gutes und geklärtes Verhältnis zueinander.

Und Ihr Nicht-Verhältnis zu Andrea Nahles?
Gabriel: Das ist letztlich Sache von Frau Nahles. Dass ich ihre damalige Entscheidung (Anm. d. Red.: Gabriel das Außenministerium zu entziehen) für politisch falsch und persönlich unfair betrachtet habe – das ist ja kein Geheimnis. Aber so etwas gibt es in der Politik. Es ist aber ihr gutes Recht, sie ist Vorsitzende und muss das auch verantworten. Ich finde, das Leben ist zu kurz, um sich dauerhaft über andere Leute aufzuregen.
Man hatte den Eindruck, dass Sie in der Rolle des Außenministers neu aufgegangen sind. Hand aufs Herz: Wie sehr schmerzt sie noch der Verlust?
Gabriel: Keine Frage, natürlich habe ich diese Aufgabe sehr gerne gemacht. Aber am Ende – da hatte Gustav Heinemann schon Recht – sind wir Gewählte und keine Erwählten. Solche Prozesse gibt es in Parteien. Würde ich 200 Jahre alt, könnte ich mich 30 Jahre aufs Ärgern verlegen. Weil ich aber deutlich weniger alt werde, habe ich mich auf 30 Tage beschränkt. Und die sind längst rum.
Wie sehr wirken persönliche Erfolge aus dieser Zeit nach? Sind Sie stolz, etwa auf die von Ihnen vermittelte Freilassung des Journalisten Deniz Yücel?
Gabriel: Ja, aber ich blicke nicht zu sehr zurück. Ich habe meine politische Arbeit gerne gemacht und nicht, um darauf stolz zu sein. Ich habe als Wirtschaftsminister gegen Widerstände und große Missachtung innerhalb der SPD 15.000 Arbeitsplätze bei Tengelmann gerettet. Für so etwas bin ich in die Politik gegangen. Leute nicht allein zu lassen und Dinge gegen Widerstände durchzusetzen. Zu zeigen, dass man etwas bewirken kann. Daran erinnere ich mich natürlich gerne.
Zu Ihrem Rollenwechsel gehört neben der Gastprofessur an der Universität Bonn auch bald ein Sitz im Verwaltungsrat des neuen deutsch-französischen Konzernriesen Siemens-Alstom in der Bahntechnik. Ist das in Ordnung, wo Sie die Fusion als Wirtschaftsminister doch positiv begleitet haben?
Gabriel: Nein, das habe ich nicht. Nur weil es in der „Süddeutschen Zeitung“ steht, müssen solche Behauptungen ja nicht stimmen. Ich habe mich mal 2014 mit Siemens und Alstom befasst, als es um den Kraftwerksteil ging. Leider ist es uns dort nicht gelungen, die Fusion herbeizuführen. Alstom hat mit General Electrics fusioniert – was in Mannheim 1.500 Jobs gekostet hat. Das hätte ich damals gerne verhindert. Mit der Schienenverkehrssparte hatte ich nie etwas zu tun.
Kritiker wünschen sich einen größeren zeitlichen Abstand zwischen Ministeramt und Wechsel in die Privatwirtschaft…
Gabriel: Die Karenzzeit wird ja eingehalten. Und das ist auch gut so. Diese Karenzzeit – bei mir werden es zwölf Monate sein – soll ja jeden Verdacht ausräumen, man brächte sozusagen Regierungsentscheidungen im Gepäck ins Unternehmen mit. Das ist bei der Fusion der Schienenverkehrssparte von Siemens und Alstom schon deshalb nicht der Fall, weil sie ohne Zutun der Politik entstanden ist. In China ist einfach durch eine chinesische Fusion ein Gigant am Markt der Schienenfahrzeughersteller entstanden. Um da im Wettbewerb zu überleben, haben sich die beiden Unternehmen Siemens und Alstom in Europa auch zusammengeschlossen. Das ganze Unternehmen entsteht erst im nächsten Jahr. Der Aufsichtsrat wird erst im März nächsten Jahres berufen. Dann ist die Karenzzeit abgelaufen. Ich fand es nur angemessen, das bereits jetzt der Bundesregierung und der Öffentlichkeit zu sagen, weil sich das Ganze in Vorbereitung befindet. Die Karenzzeit haben wir selber als Sozialdemokraten gefordert. Sie ist richtig und wird bei mir eingehalten.
Was hat Sie an dem Sitz im Verwaltungsrat, vergleichbar dem deutschen Aufsichtsrat, gereizt?
Gabriel: Manche dachten ja, ich wollte Lobbyist für Siemens werden oder dort ins Management gehen – das ist Quatsch. In meinem Wahlkreis gibt es 3000 Beschäftigte bei Alstom und 3000 bei Siemens. Deshalb habe ich die Aufgabe gerne übernommen – und das finden übrigens auch die Betriebsräte und Gewerkschaften gut.
Keine Sorge, dass durch solche Verquickung das Vertrauen in die Politik leidet?
Gabriel: Welche Verquickung denn? Dass ich als Abgeordneter meines Wahlkreises die Pflicht habe, auf die 6.000 Arbeitsplätze aufzupassen? Seien wir ehrlich: Ihre Frage produziert doch das Vorurteil, es gehe um finanzielle Vorteile, die man nach seiner Regierungszeit in einem Unternehmen bekommt. Mein Rat: Schauen Sie mal in die Vergütungen für den Verwaltungsrat hinein. Der tagt nur viermal im Jahr. Bei der Aufwandsentschädigung, die dafür gezahlt wird, ist das doch kein Millionenjob. Ich werde nicht Teil des Managements, sondern eines Aufsichtsgremiums. In meinem Wahlkreis hat jedenfalls jeder verstanden, um was es geht. Und ich bekomme zuhause noch immer 44 Prozent der Wählerstimmen... (schmunzelt)
… im Gegensatz zu…?
Gabriel: Das überlasse ich Ihrer Fantasie.