An diesem Donnerstag will die britische Premierministerin Theresa May mit der EU den Brexit-Deal nachverhandeln. Sie spricht von "neuen Ideen", Brüssel gibt sich nicht sonderlich gesprächsbereit. Insbesondere bei der Frage nach der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland. Politikwissenschaftler und Terrorismus-Experten Peter Neumann erklärt, wie es 20 Jahre nach dem Ende des Konflikts um die Sicherheitslage bestellt ist.
Die Grenze zwischen Irland und Nordirland wird bei den Brexit-Verhandlungen zum Zünglein an der Waage. Was wäre denn so schlimm an einer harten Grenze? Der Konflikt ist doch längst Geschichte.
Peter Neumann: Der Konflikt ist tatsächlich seit 20 Jahren vorbei. Ich war 1998, als das Karfreitagsabkommen geschlossen wurde, in Belfast und habe das direkt mitbekommen. Das war ein historisches Ereignis, bei dem aber alle Seiten und alle Parteien in Nordirland – katholische Nationalisten und protestantische Unionisten – Kompromisse gemacht haben. Die Nationalisten, die für ein vereintes Irland waren, haben damals zwar nicht bekommen, was sie eigentlich wollten, aber sie können zumindest so leben, wie in einem vereinten Irland. Ohne Grenzen. Das geht über die wirtschaftlichen Aspekte hinaus, da geht es auch um Identität. Viele Nationalisten sind jetzt fast schon panisch und haben Angst davor, dass man die Uhr zurückdreht.
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Sie sprechen von Katholiken auf der einen und Protestanten auf der anderen Seite. Ist die nordirische Gesellschaft heute noch so tief gespalten?
Neumann: Ja. Wohngebiete und Schulsysteme sind noch immer mehr oder weniger getrennt. Fast alle gesellschaftlichen Organisationen sind entweder katholisch oder protestantisch. Von einer gemeinsamen Identität kann keine Rede sein. Das ist eine Art kalter Friede, in dem – um es deutlich zu sagen – Gewalt allerdings mittlerweile sehr selten ist.
Befürchten Sie, dass eine harte Grenze zu Irland die Gewalt wieder aufflammen lassen könnte?
Neumann: Nicht unmittelbar. Die IRA – die große terroristische Organisation, die ein vereintes Irland mit Waffengewalt erreichen wollte – hat sich dem Friedensvertrag angeschlossen und die Waffen niedergelegt. Das war ein großer Erfolg. Es gab aber eine kleine Minderheit innerhalb der IRA, die sich abgespalten hat und weiter kämpfen wollte. Diese sogenannten Dissidenten gibt es nach wie vor.
Die spielen bisher aber keine Rolle.
Neumann: Das Friedensabkommen war bislang so erfolgreich, dass diese Minderheit immer bedeutungslos geblieben ist. Es kam zwar ab und zu zu versuchten Anschlägen. Das hatte aber keinen Effekt. Die Gefahr ist, dass diese Dissidentengruppen versuchen, aus den aktuellen Entwicklungen Kapital zu schlagen und Anhänger zu gewinnen. In dieser polarisierten Atmosphäre könnten sie versuchen, mit kleinen oder mittelgroßen Anschlägen als Brandbeschleuniger eine Dynamik zu schaffen, die zur Eskalation führt. Ich glaube zwar nicht, dass das auf große Resonanz stoßen würde. Die allermeisten Nationalisten in Nordirland sind gegen Gewalt, aber auch gegen eine harte Grenze. Insofern könnten einige durchaus eine gewisse Sympathie für die Sache haben, die man versucht zu erkämpfen.
Möglicherweise kommt die EU May in dem ein oder anderen Punkt noch entgegen. Eine Änderung des Backstops, die die Hardliner verlangen, scheint aber ausgeschlossen. May spricht vor ihrer Brüssel-Reise dennoch von "neuen Ideen". Gibt es da welche?
Neumann: Nein, das ist alles bereits hoch- und runterdiskutiert worden. Alle Möglichkeiten, auch diejenigen zur Lösung des Irland-Themas, sind bekannt. Was auch immer man da als neue Idee präsentiert, führt entweder zu einer härteren Grenze oder dazu, dass Großbritannien Teil des gemeinsamen Marktes oder der Zollunion ist. Diese zwei Optionen schließen sich aus. Dass man mit dem Zauberstab eine neue Lösung finden will, ist ein trauriges politisches Schauspiel. May geht es nicht darum, was gut für das Land ist, sondern darum, die eigene Partei, die in der Brexit-Frage tief gespalten ist, zusammenzuhalten. Es ist absurd, denselben Deal, der vor Wochen noch als der bestmögliche verkauft wurde, jetzt als schlecht darzustellen und nachverhandeln zu wollen.
Sie leben seit 20 Jahren in Großbritannien. Wie erleben Sie die Diskussion um den Brexit und was bedeutet der Brexit für Sie persönlich?
Neumann: Die Stimmung hat sich ganz klar polarisiert. Leute, die für den Brexit sind, sind mittlerweile für einen möglichst harten Brexit. Leute, die gegen den Brexit sind, sind entweder für ein neues Referendum oder dafür, dass man alles stoppt und überlegt, was man eigentlich möchte. Ich lebe glücklicherweise in London, wo 70 bis 80 Prozent der Leute für einen Verbleib in der EU sind. Ich würde mir vielleicht mehr Gedanken machen, wenn ich in anderen Teilen Großbritanniens leben würde, wo die Mehrheit für den Brexit ist und wo es bereits Übergriffe gegen Ausländer gab. Allerdings bin ich Deutscher und entgegen der vorherrschenden Meinung sind die Briten relativ deutschfreundlich. Ich habe jedenfalls vor, hier zu bleiben, und hoffe, dass sich für mich nichts ändert. Es wurde ja von der EU bereits ausgehandelt, dass sich der Status von EU-Bürgern, die bereits in Großbritannien sind, nicht ändern darf. Und Großbritannien weiß genau: Was Großbritannien seinen EU-Bürgern antut, kann die EU ihren britischen Bürgern antun.
Sie fühlen sich also in der Fremde daheim?
Neumann: Ich habe mich in Großbritannien immer heimisch gefühlt – im Ausland, aber immer noch in Europa, also irgendwie zuhause. Das ist etwas anderes als wenn man nach Asien oder Amerika geht. Ein bisschen davon ist allerdings verloren gegangen. Emotional hat sich durch den Brexit bei mir etwas geändert. Ich habe mich ein bisschen "radikalisiert": Ich bin viel europäischer geworden. Ich nehme die Anfeindungen gegen Europa viel mehr wahr und fühle mich davon persönlich betroffen.
Zur Person Der 44-jährige Politikwissenschaftler aus Würzburg gilt als einer der renommiertesten Terrorismusexperten der Welt. Neumann lehrt am Londoner King's College und hat über den Nordirland-Konflikt promoviert. Er berät Regierungen, Nachrichtendienste und internationale Organisationen, darunter den UN-Sicherheitsrat. In den vergangenen Jahren hat er sich insbesondere mit dem Islamismus und der Radikalisierung von Terroristen beschäftigt.