Ein Abschied. Wieder einmal. Valerie Sandweger nimmt ihren Schal ab, streicht das Haar aus dem Gesicht. „Es war schrecklich“, sagt die 26-Jährige. Wie letztes Mal. Wie jedes Mal. Die Flüchtlinge hätten geweint. „Man will ja stark sein“, beginnt die Referendarin. Dann bricht sie den Satz ab, setzt sich zu den anderen an den langen Holztisch im Aufenthaltsraum des Technikums. Eigentlich hatte die angehende Lehrerin vor vielen Monaten nur Klamotten in der Notunterkunft am Heuchelhof abgeben wollen, doch sie ist geblieben. Wie viele der rund 1300 Ehrenamtlichen, die derzeit fast doppelt so vielen Flüchtlingen in Würzburg zur Seite stehen. Beim Ankommen, beim Dasein – und beim Weiterziehen.
„Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viel telefoniert und so viele Nachrichten geschrieben.“ Anne Hasenauer lächelt, als sie auf ihr Handy schaut. Immer wieder blinken neue Grüße auf – aus Unterkünften in Garmisch-Patenkirchen, in Kitzingen oder aus dem Kosovo. Man halte Kontakt, erklärt die 64-Jährige. Egal, wohin die Menschen gebracht werden. „Es sind unsere Freunde.“ Die vergesse man doch nicht, nur weil sie umziehen. Irgendeiner schreibe ihr immer, manchmal auch dessen Bekannte, die Hilfe suchen.
„Wenn man einmal drin ist, dann ist das wie ein Sog.“ Hasenauer ist von Anfang an dabei gewesen, hat Essen verteilt, zugehört und organisiert. „Es war mir nicht möglich zu gehen“, erklärt sie und nimmt die Brille für einen Moment ab. Der Gemeinschaftsraum am Heuchelhof wird immer voller, am Tisch nebenan lernen einige junge Männer Deutsch, in der anderen Ecke läuft das Nachrichtenprogramm vom BBC. An den Wänden hängen Zettel mit Vokabeln und Bildern, ein Filmplakat und selbst gemalte Flaggen. Davor stehen stapelweise Stühle und ein Regal.
„Die Zivilgesellschaft wird hier gebraucht“, sagt Hasenauer. Auch weiterhin. Als die ersten Flüchtlinge vor über einem Jahr am Heuchelhof ankamen, sei es chaotisch gewesen. „Es war erstmal ein Schock.“ Den Menschen sei es sehr schlecht gegangen, die Helfer seien auf sich allein gestellt gewesen. Niemand habe so richtig gewusst, wer für was verantwortlich ist. Weder die Bürger, noch die Regierung von Unterfranken, die diese erste Würzburger Notunterkunft ins Leben gerufen hatte.
„Am Donnerstagabend kam der Anruf, dass am nächsten Tag die Asylbewerber kommen“, fügt Pfarrer und Helfer Max von Egidy erklärend hinzu. Damals sei – im Vergleich zu heute – die Regierung „noch sehr ungeübt“ gewesen. Als die ersten Busse mit rund 70 Menschen hielten, habe man ihnen ein Dach über den Kopf und etwas zu Essen gegeben. „Das war's dann“, sagt der Pfarrer. Von diesem Punkt an seien die Ehrenamtlichen gefragt gewesen. Bis heute.
„Hallo, wie geht's?“ Händeschütteln, lächeln und reden. Während die Helfer im Gemeinschaftsraum reden, kommen immer wieder Bewohner herein. Wollen sie begrüßen, freuen sich, die bekannten Gesichter zu sehen. „Wir geben ihnen Sicherheit, eine Heimat“, sagen die Helfer. „Sie sind die Besten“, bestätigen die jungen Männer, meist Syrer und Afghanen.
„Ich hätte nie gedacht, welche enge Bindungen man innerhalb von zwei Wochen aufbauen kann.“ Auch Laura Siebachmeyer gehört zu den Langzeithelfern am Heuchelhof. Seit über einem Jahr baut sie hier im Technikum Beziehungen auf, genauso lang muss sie ihre Freunde immer wieder verabschieden. An den Transfer gewöhne man sich nie, sagt die 24-Jährige. Das Wort mit „T“, das vor dem Gemeinschaftsraum auf einem roten Zettel an einer Pinnwand hängt, sei eine der meistgehassten Vokabeln. „Man weiß, dass es passiert, aber es ist jedes Mal schlimm.“ Wenn man die Ungerechtigkeit, die Trennung von Familien und Freunden mitbekommt und hilflos zuschauen muss, werde man „bissiger“ gegenüber den Behörden.
Bissig – ein Wort, dass auch sonst auf den Gemütszustand vieler Helfer passen könnte. Auch, wenn sie es nicht wollen. „Du lernst dich selbst, deine Freunde, deine Familie und die Gesellschaft ganz anders kennen“, bekräftigt Valerie Sandweger. Einen Moment lang halten alle fünf inne. Scheinen sich in den eigenen Gedanken verloren zu haben. Ob sie sich rechtfertigen müssen für das, was sie tun? „Ja, jeden Tag.“ Es sei besser geworden, doch dann kam die Silvesternacht.
„Alles, was wir ein Jahr lang im Freundes- und Familienkreis aufgebaut haben, ist seit Köln wieder zerstört.“ Laura Siebachmeyer legt ihre Stirn in Falten, die Augen sind zusammengekniffen. Sexuelle Übergriffe, wie am Kölner Hauptbahnhof, gebe es hier am Technikum, einer reinen Männerunterkunft, nicht. Im Gegenteil. „Mich begleiten immer ein bis zwei Flüchtlinge abends zum Auto, damit mir ja nichts passiert“, erzählt die 24-Jährige, fährt sich durch das lange, blonde Haar. „Ich habe mich nie eine Sekunde unwohl gefühlt“, fügt sie hinzu, „nie!“ Glauben wollen ihr das viele nicht.
„Die öffentliche Stimmung macht einem zu schaffen.“ Die Freundlichkeit und Unbeschwertheit sei bei vielen verloren gegangen. Egal, ob in der Straßenbahn, im Büro, in der Kneipe, in den Medien oder zuhause am Esstisch – der Hass, der vielen Flüchtlingen entgegengebracht wird, trifft auch die Helfer.
„Man wird angemotzt, wenn man sagt, ich suche für einen Flüchtling“, nennt Valerie Sandweger die Wohnungssuche als Beispiel. Anfangs sollten die Flüchtlinge nur wenige Wochen in der Notunterkunft bleiben, mittlerweile sind einige monatelang da. Manche könnten ausziehen, finden aber nichts. Viele Vermieter hätten Vorurteile und ließen sich auch von Bürgschaften der Helfer nicht überzeugen. Diese Härte breche nicht nur den Geflüchteten das Herz.
„Wenn die Leute über Flüchtlinge motzen, muss ich mich einmischen“, sagt Anne Hasenauer. Zu viele Schicksale, zu viele Tränen habe sie erlebt und gesehen, um dem Wutbürger seinen Freiraum zu lassen. Natürlich gebe es auch Lagerkoller, natürlich sei nicht alles immer Zartrosa – aber wo sei das schon so? „Die Menschen hier schwanken ständig zwischen Hoffnung und tiefer Depression“, erzählt die 64-Jährige. Ihr selbst habe mal ein Flüchtling, ein Freund, gesagt, er wolle lieber wieder zurückgehen nach Syrien und dort sterben als den Hass hier zu erleben. „Das macht mich wütend“, murmelt Hasenauer, „ich versuche, ihnen Sicherheit und Halt zu geben.“
Dafür, so werden sich die fünf im Gespräch einig, nehmen sie auch die Sprüche der Freunde und Kollegen, der Familie und der besorgten Bürger in Kauf. Lassen sich „Gutmensch“ und „systemblind“ schimpfen. Manchmal gehe man darauf ein, manchmal sehe man darüber hinweg. Kraft koste es immer.
Doch es gibt auch die andere Seite, die sie stärkt. Das freundliche Lächeln hier, der glückliche Blick dort. „So viele Liebeserklärungen habe ich noch nie bekommen“, fügt die Älteste in der Runde, Jutta Nüdling, lachend an. Ihren vollen Namen kenne hier fast niemand. „Mama Jutta“, rufen die jungen Männer. Die 76-Jährige kommt aus dem Strahlen gar nicht heraus. „Ich habe unheimlich viel Zeit reingehängt und es nie bereut“, sagt sie. Vor dem Flüchtlingsstrom hatte sich die kernige Rentnerin bereits 35 Jahre lang im Seniorenkreis engagiert, jetzt teilt sie ihre Freizeit auf. Im Technikum spielt sie Gitarre, näht Taschen und hört zu. „Sie ist für viele Jüngere hier die Ersatzmutter“, erklären die anderen. Mama Jutta hört das gar nicht mehr. Die Rentnerin steht inmitten einer Traube von Flüchtlingen, streckt ihre Hand zur Begrüßung aus. Ein Neubeginn. Wieder einmal.