Vor genau 75 Jahren, am 24. November 1945, ist die Main-Post zum ersten Mal erschienen. Die gedruckte Zeitung gibt es noch immer, auch wenn ihre Auflage sinkt. Dafür erreicht die Redaktion heute über ihre digitalen Angebote mit ihren Inhalten mehr Menschen als je zuvor. Ein Gespräch mit dem Journalistikprofessor Klaus Meier über die Zukunft der Zeitung und den Wert des Journalismus in diesen Tagen.
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In der Nachkriegszeit hatten Zeitungen eine wichtige Aufgabe: Sie wirkten an der Demokratisierung des Landes mit. Ist die heutige Bedeutung des Journalismus mit der von vor 75 Jahren vergleichbar?
Klaus Meier: Ich denke schon, dass man Parallelen ziehen kann. 1945 war die "Stunde null" – in Sachen Demokratie, aber auch in Sachen Medien. Alle mussten erstmal Demokratie lernen. Dazu gehört, dass jeder das Recht auf eigene Meinung hat, aber nicht auf eigene Fakten und dass die Medien politische Entscheidungen nicht einfach weiterleiten, sondern unabhängig und mit Distanz recherchieren und berichten. Die Alliierten haben uns viel dabei geholfen. Wenn wir auf 2020 schauen, dann laufen wir manchmal Gefahr, die Demokratie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Aber Demokratie ist nicht nur eine Staatsform, sondern eine Lebensform, in der wir gemeinschaftlich Lösungen für gesellschaftliche Probleme finden und mit Respekt und achtsam streiten müssen.

Glaubwürdigkeit gilt im Journalismus als Währung der Zukunft. Was müssen Redaktionen, aber auch Politik und Gesellschaft tun, damit klar ist, was Fakten und was Fake News sind?
Meier: Die Diskussion über Fake News und sogenannte alternative Medien führen wir seit etwa fünf Jahren. Diese Diskussion hat dazu geführt, dass bei vielen Menschen das Vertrauen in den klassischen Journalismus gestiegen ist. Umfragen zeigen das deutlich. Trotzdem können Redaktionen selbst auch etwas tun: sich öffnen, transparenter werden, eigene Fehler korrigieren, ihre Arbeit immer wieder erklären. Das ist ein mühseliges Geschäft, kostet Zeit und Nerven, aber es ist wichtiger geworden. Die Medienbildung ist ein anderer wichtiger Punkt: Die Menschen müssen lernen in der digitalen Medienwelt zurechtzukommen.
"Für viele geht eine Tasse Espresso immer. Ein oder zwei Euro pro Tag für eine Tageszeitung im Internet – da zögert man."
Prof. Klaus Meier über die Bereitschaft für Journalismus im Netz zu zahlen
Hat es der Journalismus heute schwerer mit Fakten durchzudringen, während es andere mit ihren Wahrheiten leichter haben? Donald Trump hat Twitter, Querdenker nutzen YouTube – die brauchen nicht zwangsläufig die Zeitung.
Meier: In den letzten 75 Jahren stand der Journalismus immer vor Herausforderungen. Aber die radikalste Herausforderung ist, was wir in den letzten fünf bis zehn Jahren sehen: Social Media und Internet auf dem Smartphone. Jeder hat die Möglichkeit, sich jederzeit im Internet zu äußern. Aber jeder tut das letztlich immer aus einem Eigeninteresse, aus einer bestimmten Weltsicht heraus. Journalisten und Zeitungen haben den Auftrag der unabhängigen Stimme, die alle Seiten zu Wort kommen lässt und Argumente auf Recherchen stützt. Sie müssen sich vom Monopolisten zum orientierenden Leuchtturm wandeln. Journalisten müssen sich daran messen lassen, ob sie diesen Anspruch erfüllen. Eine Zeitung, die sich ins Konzert der Interessensvertreter einreiht, ist überflüssig.
Die Auflagen der gedruckten Zeitung sinken seit Jahren. Wird der Wert des Journalismus, wie Sie ihn beschreiben, nicht mehr erkannt?
Meier: Zeitung ist mehr als bedrucktes Papier. Zeitung ist die Institution, die journalistische Leistung erbringt – egal ob auf Papier ausgeliefert oder auf allen möglichen digitalen Wegen. Zeitungshäuser erreichen jetzt schon digital mehr Menschen als über die gedruckte Auflage. Das heißt, die Relevanz von Journalismus ist für die Menschen nicht gesunken, aber die Bereitschaft, für gut recherchierte Informationen auch im Internet zu bezahlen, sollte größer sein. Ich vergleiche das mit einem Espresso: Für viele geht eine Tasse immer, ein oder zwei Euro pro Tag für eine Tageszeitung im Internet – da zögert man. Von einer digitalen Zeitung hat man aber länger etwas als von einem Espresso, auch wenn man mal nur einen Artikel gewinnbringend liest.
"Es wird sich in den nächsten zehn bis 30 Jahren abspielen."
Prof. Klaus Meier über das Ende der gedruckten Zeitung
Das klingt nicht gerade nach einer langen Zeit, die der gedruckten Zeitung noch bleibt. Wann gibt es die Zeitung auf Papier nicht mehr?
Meier: Wenn man alle gedruckten Zeitungsauflagen in Deutschland zusammenzählt, die Entwicklung der letzten 30 Jahre auf eine Kurve legt und von einem Statistikprogramm weiter rechnen lässt - dann schneidet diese Kurve im Jahr 2033 die Nulllinie. Das ist aber sehr pauschal, denn es hängt unter anderem von der Region ab: Es gibt Gegenden, in denen es schwieriger ist, gedruckte Zeitungen zu verkaufen, da werden Verlage früher den Druck einstellen müssen. Wo es den Menschen ökonomisch besser geht oder traditionell eine größere Nähe zur Zeitung besteht, wird es länger dauern. Es wird sich aber in den nächsten zehn bis 30 Jahren abspielen. Die große Unbekannte ist jedoch die technische Entwicklung: Hätten wir uns vor zehn bis 15 Jahren vorstellen können, dass wir auf einem Telefon Videos schauen und uns sekündlich über den Stand der Welt informieren? Auch in den nächsten zehn bis 15 Jahren kann es wieder technische Entwicklungen geben, die das Ende der gedruckten Zeitung schneller kommen lassen, vielleicht auch hinauszögern.

Umso wichtiger ist es, dass das Online-Geschäft der Verlagshäuser irgendwann so erfolgreich ist, wie es das Print-Geschäft gerade noch ist. Wann ist das soweit?
Meier: Das kann man nicht pauschal für alle Häuser sagen. Bei einigen wird es in drei bis fünf Jahren soweit sein, bei anderen wird es länger dauern. Auch hier hängt es von der jeweiligen Region, den Strategien des Verlagshauses und den technischen Entwicklungen ab.
Der amerikanische Medienexperte Jeff Jarvis meint ja, Verlagshäuser sollten einen Tag X festlegen, an dem sie die Druckmaschinen abstellen, damit sie gezwungen sind, sich endlich gute Online-Modelle für ihr Angebot einfallen zu lassen.
Meier: Das ist vielleicht eine etwas platte Idee. Da wird es eine lange Übergangsphase mit vielen Möglichkeiten geben: Zeitungshäuser könnten sich zusammentun und sich ein Druckhaus teilen. Vielleicht wird eine Zeitung irgendwann auch nur noch zwei- oder einmal pro Woche gedruckt. Eine Wochenzeitung wie "Die Zeit" ist ja mit ihrer gedruckten Auflage sehr erfolgreich. Im Kern geht es aber durchaus darum, dass man sich überlegt, ab wann es sich nicht mehr lohnt, täglich eine Zeitung zu drucken und auszutragen, etwa in dünn besiedelten Regionen. Die Vertriebskosten steigen extrem, wenn der Austräger auf einem langen Weg pro Stunde nur ein paar Exemplare in die Briefkästen steckt.
"Im Netz bekomme ich oft nur das, was ich gerade suche – und das in einer Dauererregung und Informationsflut."
Prof. Klaus Meier über einen Vorteil der gedruckten Zeitung gegenüber dem Internet
Gibt es etwas, was die gedruckte Zeitung kann, das Internet aber nicht? Und ist es gefährlich das aufs Spiel zu setzen?
Meier: Es ist definitiv eine Stärke der Zeitung, dass man sich einmal am Tag zurücklehnen kann und recherchierte Informationen bekommt – und eine Vielfalt an Themen, Perspektiven und Positionen, die man durchblättert. Im Netz bekomme ich oft nur das, was ich gerade suche – und das in einer Dauererregung und Informationsflut. Ich würde die gedruckte Zeitung vermissen und ich weiß nicht, wie man das auffangen könnte. Aber wo ein Bedarf ist, da gibt es auch Lösungen – vielleicht auch digitale: Das E-Paper ist ja schon so ein Produkt, das die gedruckte Zeitung nachahmt. Vielleicht bleibt das erhalten und wird noch technisch und gestalterisch optimiert.
Sie sagen, Sie würden die Zeitung vermissen. Was wäre, wenn es die Zeitung tatsächlich nicht mehr gäbe?
Meier: In den USA gibt es inzwischen 200 Landkreise ohne Lokalzeitung. In einer Studie sagten Befragte in einer solchen Gegend, dass sie sich nicht nur im Dunkeln fühlen, was Bürgermeister, Stadtverwaltung und Gemeinderäte machen. Sondern auch, dass sie sich voneinander abgekoppelt fühlen: "Ich bin mehr isoliert", sagte ein Bürger. "Die Zeitung war etwas, das uns in der Region zusammengehalten hat." Stellen wir uns vor, es gäbe die Main-Post nicht mehr. Was würde in Unterfranken passieren? Es würde ein Konzert der Stimmen laut anschwellen. Jeder würde etwas schreien, die unabhängige Stimme aber, die recherchiert und viele Positionen zusammenbringt, die würde fehlen und das wäre schlecht – im demokratischen Sinn und für den Umgang miteinander.
Sie kennen die Mediengruppe Main-Post gut, waren schon oft bei uns zu Gast. Wo stehen wir aus Ihrer Sicht?
Meier: Sie sind im Vergleich zu einigen anderen Zeitungshäusern innovativ unterwegs. Und Sie machen sich Ihre eigene Qualität bewusst: Sie überlegen sich, wie guter Journalismus geht, wie man ihn sich wirtschaftlich leisten kann und was Ihren Leserinnen und Lesern hilft, zeigen auch Lösung und Hoffnung bei Problemen auf. Dabei wissen Sie, dass Zeitung auch unbequem, ja manchmal eine Zumutung sein muss. Das Ziel zu haben, von allen Menschen geliebt zu werden, wäre für einen Journalisten falsch. Sie müssen den Finger in die Wunde legen, da verdirbt man es sich auch mal mit dem ein oder anderen. So lange das fair und konstruktiv bleibt, ist es dringend nötig. Wenn man das nicht machen würde, hätte man den Beruf verfehlt.
Prof. Klaus MeierDer 52-Jährige ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Journalistik I an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Zuvor war der gelernte Zeitungsredakteur Professor für Journalistik an der Hochschule Darmstadt und der Technischen Universität Dortmund. Er ist Träger des Ars legendi-Preises für exzellente Hochschullehre 2017.ben