Am Marienplatz wird im großen Würfel namens "Kunstleerer Raum" fast täglich, manchmal auch mehrmals am Tag Kunst gemacht. Heimische Künstlerinnen schufen damit einen kleinen Ausgleich zu den corona-bedingten Schließungen von Kultur-Orten.
Inzwischen ergreifen auch Künstler von außerhalb die Gelegenheit, sich auf die Gästeliste für den Würzburger Kulturkubus zu setzen. So der Medien-Experimentator Michael Lutz aus München. Am Donnerstagnachmittag veröffentlichte er seinen interaktiven Text "Ich + du, du kannst mich mal…" im öffentlichen Raum.
Kollektive Texte, visuell gestaltet – die Karriere des gebürtigen Gemündeners (Jahrgang 1959) zielte in den 1980er-Jahren genau auf solche gattungsgemischten Werke: Erst studierte er Germanistik in Erlangen, dann Kunst an den Akademien von Nürnberg und München. Im Jahrzehnt darauf sah man ihn als Stipendiaten unter anderem in New York.
Und früh erschloss er sich das damals so neue Internet. Das spielte auch am Donnerstag in Würzburg eine Rolle: In "Ich + du" kann sich jeder einwählen (www.interaktivertext.de/iud/index.html) und nach ein paar intuitiven Tappsern auf dem Smartphone einen kleinen Text eingeben.
Die Versuchung, ein ellenlanges Epos niederzulegen, wird gebremst, indem nach wenigen Zeichen ältere Sätze anderer Autoren eingeblendet werden, auf die man mitten im Schreiben dann doch gern eingeht. Schließlich greifen die Einblendungen wie von Wunderhand gesteuert meist irgendetwas vom eigenen Textanfang auf.

Michael Lutz kann das erklären: "Es werden nur Texte aufgerufen, in denen Schlüsselwörter vorkommen, die der aktuelle Texter grade verwendet." Der Künstler weiß das so genau, weil er "Ich + du" selbst programmiert hat. Seit Anfang des Jahres ist die Seite online und wächst.
Ähnliche Werke entwickelte er, um sie in Galerien und Museen zu präsentieren – meist in Form von Projektionen der Typografien an die Wände dieser Kunsthäuser. Für Würzburg setzte Lutz "zum ersten Mal auf Minimalisierung. Die Realisierung findet allein auf den Smartphones der Besucher statt."
Dass nur wenige Passanten neugierig auf Interaktion waren, hat den Künstler nicht verdrossen. Die zwei Kunstleerer-Raum-Initiatorinnen Evelin Neukirchen und Gabriele Kunkel gesellten sich in der ersten Donnerstagnachmittagsstunde zu ihrem prominenten Gast und ließen sich Werk und Vorgehensweise erklären – was, anders als die praktische Beteiligung an "Ich + du", mit einem Satz nicht abgetan war.
"Ich stehe wie in einer Performance mit dem interaktiven Text mitten auf eurer schönen Bühne."
Michael Lutz, Künstler
Allein Lutzens Kernbegriffe Interaktion und Interaktivität verlangten einen kleinen Exkurs in die Kunstgeschichte; ersteres sei schon, so der Urheber, seit den Happenings der 1960er-Jahre ein wichtiges künstlerisches Prinzip, während Interaktivität erst als Fachbegriff der digitalen Welt hinzukam: "Und ich mache beides zusammen: Ich stehe wie in einer Performance mit dem interaktiven Text mitten auf eurer schönen Bühne."
Auch wenn nur wenige mitdichteten, war Lutz vom Kunstleeren Raum begeistert: "Wenn ich im Atelier programmiere, habe ich keinen Kontakt mit anderen. Heute sehe ich, wie Leute mit meiner Arbeit interagieren." Und das ist das Wichtigste, erklärt er: "Es geht mir immer mehr um die Interaktivität und weniger um das Thema. Ich gebe nur den Rahmen vor, in dem die Benutzer interagieren, sich mit dem Thema auseinandersetzen. Natürlich muss ich ein Thema vorgeben, diesmal die Beziehung von zweien, damit der Betrachter einen Ansatz hat."