Es ist der alte Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit. Um jedem Bürger Sicherheit garantieren zu können, ist der Staat gezwungen, die Freiheit des Einzelnen in bestimmtem Maß einzuschränken. Aber wo genau liegt das richtige Maß? Das ist auch der große Streitpunkt beim neuen Polizeiaufgabengesetz (PAG), gegen das bayernweite Demonstrationen laufen – so am Freitagabend in Nürnberg und an diesem Samstag ab 16.30 Uhr in der Würzburger Innenstadt. Aufgerufen haben die Grüne Jugend, SPD und weitere Gruppierungen.
Warum braucht es überhaupt ein neues Polizeiaufgabengesetz?
Eine Novellierung des Gesetzes ist schon rein formal nötig, weil die bisherigen rechtlichen Regelungen den neuen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der europäischen Datenschutzrichtlinie angepasst werden müssen. Das Innenministerium macht darüber hinaus geltend, dass die Polizei Schwerkriminellen und Terroristen nicht hinterher hinken dürfe. Kritiker bestreiten das. Die Kriminalität sei rückläufig, eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse sei deshalb nicht gerechtfertigt.
Wann soll das neue Gesetz verabschiedet werden und woher rührt die Eile?
Laut Innenministerium müssen die Datenschutzvorgaben der EU bis zum Mai 2018 umgesetzt sein. Die CSU will das Gesetz deshalb Mitte Mai im Landtag beschließen. Einen Zeitdruck für die Ausweitung polizeilicher Befugnisse gibt es allerdings nicht. Dieser Teil des Gesetzes ist politisch motiviert und deshalb heftig umstritten. Die CSU beharrt darauf, der Polizei mehr rechtliche und technische Instrumente an die Hand zu geben. Kritiker werfen ihr vor, mit „Law-and-Order“-Politik Wahlkampf zu machen und weit über das Ziel hinauszuschießen.
Was soll die Polizei künftig dürfen?
Das Innenministerium nennt dazu einige Beispiele: Die Polizei kann Daten künftig auch in Cloud-Speichern sicherstellen. Bisher kann sie zur Gefahrenabwehr nur Daten auf dem Endgerät selbst abrufen, nicht aber Daten, die auf anderen Servern gespeichert sind. Die Polizei kann bei Verdacht bevorstehender schwerer Straftaten DNA-Spuren auswerten, um Alter, Haut- und Haarfarbe sowie Herkunft des Verdächtigen zu Fahndungszwecken einzusetzen. Bei Paketzustelldiensten oder der Post darf die Polizei künftig Bestellungen über das Darknet sicherstellen, zum Beispiel um illegale Waffen aus dem Verkehr zu ziehen. Der Rechtsexperte der SPD im Landtag, Franz Schindler, hat insgesamt 35 neue Eingriffsrechte aus dem umfangreichen Gesetzentwurf herausgefiltert: neue Meldeanordnungen (Aufenthaltsgebote und Aufenthaltsverbote), einfachere Sicherung von Vermögensrechten, erweiterte Videoüberwachung, verdecktes Abhören außerhalb von Wohnungen, automatische Kennzeichenerfassung.
Was sind die Hauptkritikpunkte der Gegner?
Die wichtigste Kritik der PAG-Gegner ist, dass nicht nur Befugnisse erweitert werden, sondern dass mit dem neuen Gesetz die Eingriffschwelle für die Polizei deutlich abgesenkt wird und damit Bürger- und Freiheitsrechten eine massive Einschränkung droht. Das betrifft insbesondere jene Fälle, in denen noch gar keine Straftat vorliegt, also den Gesamtbereich von Prävention und Gefahrenabwehr. Für den bayerischen Datenschutzbeauftragten Thomas Petri etwa ist die „präventiv-erweiterte DNA-Analyse“ ein „rechtsstaatlicher Tabubruch“.
Werden Bürgerrechte und der Datenschutz dadurch gestärkt?
Das Innenministerium sagt ja. So würden zum Beispiel Daten aus Abhörmaßnahmen künftig vorab durch eine unabhängige Stelle auf Betroffenheit des absoluten Privatlebens geprüft. Daten aus dem rein privaten Bereich seien „absolut tabu“. Eine unabhängige Datenprüfstelle beim Polizeiverwaltungsamt leiste Gewähr dafür, dass solche Daten nicht ausgewertet und verwertet werden dürfen. Zudem verweist das Ministerium auf den Richtervorbehalt: V-Leute dürfe die Polizei erst dann einsetzen, wenn vorher ein unabhängiger Richter zugestimmt hat. Auch eine längerfristige Observation stehe künftig unter Richtervorbehalt. Kritiker haben da massive Zweifel. Sie verweisen insbesondere auf den mangelhaften Rechtsschutz von Verdächtigen. Anders als in Strafverfahren stehe den Betroffenen polizeilicher Eingriffe nicht automatisch ein Rechtsanwalt zur Verfügung, ihre Beschwerdemöglichkeiten seien beschränkt und Schadenersatz für ungerechtfertigt angeordnete Maßnahmen sei nicht vorgesehen. Der Rechtsanwalt und PAG-Kritiker Hartmut Wächtler ist überzeugt: „Es wird mit Sicherheit viele Bürger treffen, die zu Unrecht in das Visier der Behörden geraten sind.“
Was steckt hinter dem Streit um die Begriffe „konkrete Gefahr“ und „drohende Gefahr“?
Bisher war der Begriff „konkrete Gefahr“, der ein vorbeugendes Eingreifen der Polizei erlaubte, relativ weit gefasst. Er wurde vom Bundesverfassungsgericht eingeschränkt. Eine konkrete Gefahr liegt jetzt nur noch vor, wenn neben einer Drohung auch Ort und Zeit bekannt waren. Andernfalls ist es nur noch eine „drohende Gefahr“. Das Ministerium nennt Beispiele: „Der gekränkte, aber untergetauchte Ehemann hat angekündigt, seine Frau aus Rache töten zu wollen. Hier darf die Polizei nicht abwarten müssen, bis sie weitere Erkenntnisse zu Ort und Zeit der Tat hat.“ Ähnliches gelte für die Verabredungen von potenziellen Terroristen, mit einem Auto in eine Menschenmenge fahren zu wollen. „Solche Gefahren müssen schon in der Entstehungsphase unterbunden werden können und nicht erst, wenn die Polizei nachweisen kann, wann und wo der Anschlag definitiv stattfindet“, sagt Innenminister Joachim Herrmann. Rechtsanwalt Wächtler räumt zwar ein, dass der Begriff vom Verfassungsgericht stamme, er sei dort aber in einem völlig anderen Zusammenhang und für völlig andere Sachverhalte verwendet worden.
Stimmt es, dass ein potenzieller Straftäter künftig ohne Anordnung eines Richters über einen längeren Zeitraum eingesperrt werden kann?
Nein. Auch künftig soll die Polizei einen Verdächtigen nur bis zum Ablauf des folgenden Tages festhalten dürfen. Dann muss ein Richter Untersuchungshaft verfügen. „Andere Behauptungen sind eine Unverschämtheit“, ärgert sich Innenminister Herrmann.
Stimmt es, dass die bayerische Polizei künftig Handgranaten und Maschinengewehre einsetzen darf?
Ja, aber: Das darf sie theoretisch bisher schon und zwar nur in besonderen Situationen wie einem Terrorangriff. Zudem stehen solche Kriegswaffen ausschließlich den beiden Spezialeinsatzkommandos (SEK) zur Verfügung. Und die müssen sich jeweils im Einzelfall die Genehmigung zum Einsatz vom Landespolizeipräsidenten holen. Neu ist im Gesetzentwurf, dass die Spezialkommandos in Zukunft auch Sprenggeschosse benutzen dürfen sollen, zum Beispiel um eine Tür aufzusprengen.
Demo in Würzburg am Samstag
Bei der Demonstration in Würzburg gegen das neue Gesetz demonstrierten rund 2.000 Menschen. Ein Artikel über die Demo folgt.