Mitten im Ochsenfurter Gau liegt von Mauern umschlossen und der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet ein Stück jüdische Geschichte. Rund 700 Meter von dem Dörfchen Allersheim entfernt reiht sich Grabstein an Grabstein. Es sind hunderte. Manche bemoost und verwittert, andere gut erhalten, manche schlicht und unscheinbar, andere pompös und mit Verzierungen geschmückt.
"Die Grabsteine erzählen viel über die Menschen von damals", sagt Monika Berwanger. Und dabei gehe es um mehr als den vermerkten Namen und das Sterbedatum. Es gehe um die Menschen dahinter. Um Lebensgeschichten, Familienbanden und Traditionen. Um diese Spuren der Vergangenheit zu verfolgen, muss man allerdings genau hinschauen, Recherchen betreiben – und im besten Fall Hebräisch beherrschen.
Moderne Technik hilft beim Entziffern der Inschriften
All das tut Berwanger. Jede Woche verbringt sie Zeit
. Schon seit Jahren untersucht und dokumentiert die promovierte Theologin die dortigen Grabsteine – und das im Ehrenamt. Dafür arbeitet sie häufig mit der sogenannten "Structure from motion"-Methode. Denn ein Teil der Inschriften, die größtenteils auf Hebräisch verfasst wurden, ist bereits so verwittert, dass sie mit dem bloßen Auge nicht mehr zu entziffern sind.
Berwanger macht deshalb nicht nur ein oder zwei Fotos von einem Grabstein, sondern oft über 100 aus verschiedenen Perspektiven. Eine Software könne aus diesen Einzelbildern, dann ein Modell errechnen, erklärt die Wissenschaftlerin. "Dann ist die Schrift wieder lesbar." Eine kleine Gruppe Freiwilliger übersetze das Hebräische dann ins Deutsche, sagt die Theologin. An diesem Freitag lässt sie im Rahmen einer Führung mehr als 20 Interessierte an ihrem Wissen teilhaben – und räumt mit dem ein oder anderen Mythos auf.
Berwanger will mit Mythen aufräumen
"Es heißt oft, dass jüdische Friedhöfe außerhalb errichtet wurden, weil man sie nicht im Ort haben wollte", sagt sie, während sie die Gruppe auf den hinteren und ältesten Teil des Friedhofs führt. "Das ist Quatsch." Der Grund dafür sei ein ganz anderer, so Berwanger. Denn anders als im Christentum werden jüdische Gräber nicht nach einer gewissen Zeit aufgelöst, sondern sollen ewig bestehen. Dadurch brauche ein jüdischer Friedhof Platz, um sich auszudehnen, wenn über Jahrzehnte immer mehr Gräber hinzukommen, sagt Berwanger. Innerhalb einer Ortschaft sei das in der Regel nicht möglich.

Auf dem Allersheimer Friedhof wurde über einen Zeitraum von etwa 350 Jahren rund 4000 Jüdinnen und Juden begraben. Längst nicht alle Gräber sind heute noch erhalten. Im älteren Abschnitt sind die Inschriften vieler Grabsteine kaum noch lesbar, teils sind die Steine in den Boden eingesunken oder umgekippt und von Moos bedeckt. "Manche bemerkt man erst, wenn man schon draufsteht", sagt Berwanger.
Der Rundgang über den Friedhof gleicht einer kleinen Zeitreise. Während die Gräber im hinteren Bereich schlicht und stark verwittert sind, sind die Grabsteine auf dem neueren Teil des Friedhofs oft besser erhalten und mit Symbolen und Ornamenten versehen.

Monika Berwanger erklärt, was diese über die Bestattungskultur, aber auch über die hier begrabenen Menschen aussagen. Denn nicht nur die Inschriften geben Informationen über die Verstorbenen preis. Ein gebrochener Baumstamm stehe beispielsweise für einen besonders frühen oder plötzlichen Tod, sagt sie.
Segnende Hände auf einem Grabstein weisen ihr zufolge daraufhin, dass dort ein Kohen – also ein Mitglied der jüdischen Priesterschaft – begraben liegt. "Das zeigt auch, dass hier mal ein Rand des Friedhofs war", sagt die Theologin. Denn Nachkommen der Priesterkaste dürfen Friedhöfe im Judentum grundsätzlich nicht betreten, um sich nicht rituell zu verunreinigen. Deshalb wurden Kohanim traditionell an der Grenze des Friedhofs begraben, sagt Berwanger. Die Angehörigen konnten das Grab so trotzdem sehen.
Immer wieder melden sich Nachfahren der Verstorbenen
Die meisten Grabsteine in Allersheim seien aus Sandstein, Muschelkalk oder Granit, erklärt Steinmetz Wolfgang Sommer, der die Führung an diesem Tag mit seinem Fachwissen um eine weitere Facette ergänzt. Welches Material genutzt wurde, habe sich zum einen im Laufe der Zeit geändert, hänge zum anderen aber auch vom Vermögen der Angehörigen ab. "Auch die Stärke war eine Frage des Geldes", sagt Sommer. Denn umso dicker ein Grabstein, desto teurer war er auch.

Die Nachforschungen zu den Verstorbenen enden nicht auf dem Friedhof. Auf der Suche nach weiteren Hinweisen recherchiere sie häufig auch in Archiven, sagt Berwanger. Fast ein wenig wie Detektivarbeit fühle sich das an, gibt sie zu. "Das macht schon Spaß." Ergebnisse ihrer Arbeit werden ab kommendem Jahr auch schwarz auf weiß nachzulesen sein. Denn dann soll ein Buch erscheinen, das sich aus einer interreligiösen Perspektive mit jüdischer Bestattungskultur beschäftigt.
"Einen 83-Jährigen, der so auf dem Friedhof hüpft vor Freude, habe ich noch nicht gesehen."
Monika Berwanger, Theologin
Außerdem steht die Theologin immer wieder in Kontakt mit Menschen aus aller Welt, deren Vorfahren in Allersheim begraben liegen. Für sie ein besonders schöner Teil ihrer Arbeit. Vor einer Weile etwa habe sie ein Geschwisterpaar, das heute im Ausland lebt, auf der Suche nach dem Grab des Großvaters unterstützt, berichtet Berwanger. Keine ganz leichte Aufgabe. Doch anhand des Sterbedatums und mit etwas Glück hätten sie den richtigen Stein gefunden, sagt sie. Sehr zur Freude der Enkel. "Einen 83-Jährigen, der so auf dem Friedhof hüpft vor Freude, habe ich noch nicht gesehen."
