"Bitte, bloß nicht noch einmal das Ganze!" Nur dieser eine Gedanke geht Walter Meding durch den Kopf, als er nach einer Gallen-Operation in der Ochsenfurter Main-Klinik aufwacht. Meding ist nach der Narkose gerade zu sich gekommen, aber er kann nicht richtig sprechen. Das merkt er gleich, als eine Stimme im Aufwachraum ihn etwas fragt. Er bekommt Panik. Plötzliche Schwierigkeiten beim Sprechen , das hat der 60-Jährige schon einmal erlebt. Im März 2017, als er einen Schlaganfall erlitt.

Der Hirninfarkt hat viel angerichtet. Obwohl Meding sich inzwischen gut erholt hat, muss er noch immer am Stock gehen und kann eine Hand nicht richtig gebrauchen. Der bisherige Weg war für ihn schwierig genug: Krankenhausaufenthalt, langwierige, anstrengende Therapien und sich Abfinden müssen mit den Einschränkungen, die bleiben werden. Dass ein zweiter Schlaganfall ihn erwischt haben könnte, das ist für den Ochsenfurter in jenen Minuten im Aufwachraum der größte Alptraum. "Ich war fertig", sagt er. "Ich war kein Mensch mehr."
Natürlich hat nicht nur er selbst mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Die Ärzte bemerken, dass ein Mundwinkel herabhängt, und treten sofort in Aktion. Denn bei einem Schlaganfall ist Zeit der entscheidende Faktor. Je schneller gehandelt wird, desto größer sind die Chancen, die Folgen abzumildern. "Das ging wie bei der Feuerwehr", lobt Meding.
Neurologische Expertise ist nur einen Telefonanruf entfernt
Nun liegt er aber nicht in einer Uni-Klinik mit ihren vielfältigen medizinischen Möglichkeiten, sondern in einem internistisch ausgerichteten kleineren Krankenhaus. Eine neurologische Abteilung gibt es hier nicht. Von einer Stroke Unit, einer Spezialstation für Schlaganfälle, ganz zu schweigen . Doch die neurologische Expertise ist nur einen Telefonanruf entfernt. Denn die Main-Klinik ist Teil des Netzwerks "Transit Stroke", in dem drei große Kliniken aus der Region mit mehreren kleineren kooperieren und per telemedizinscher Beratung schnelle Hilfe für Patienten mit Schlaganfall flächendeckend sicherstellen.
Bei Walter Meding wird sofort eine Computertomographie gemacht, eine Schichtaufnahme seines Gehirns. Dazu ist die Main-Klinik in der Lage. Dann wird über die Hotline der diensthabende Neurologe einer der drei beratenden Kliniken angerufen, der sich per Computer in das Netzwerk einloggt. "In etwa drei Vierteln der Fälle wird das die Uni-Klinik Würzburg sein", sagt Dr. Daniela Kramer, die dort Funktionsoberärztin ist und"Transit Stroke" betreut. Den Dienst, der an jedem Tag im Jahr rund um die Uhr zur Verfügung steht, teilen sich die Ärzte der drei Kliniken. Aufgrund der Personalausstattung übernimmt die Uni-Klinik den Hauptanteil.
Arzt und Patient sehen sich über den Monitor
In Ochsenfurt ist Walter Meding inzwischen vor einer Kamera platziert worden, über die der Arzt in Würzburg ihn auf einem seiner drei Monitore sehen und auch hören kann. Die CT-Aufnahmen kann er dort ebenfalls aufrufen. Für Arzt und Patient ist das fast so, als würden sie sich tatsächlich gegenüber sitzen, denn auch Meding kann den Mediziner aus der Uni-Klinik sehen und hören.
"Wir schätzen uns glücklich, als Partner angesprochen worden zu sein."
Dr. Joachim Stenzel, Chefarzt Innere Medizin Main-Klinik
"Es ist für die klinische Beurteilung wichtig, dass wir den Patienten sehen und mit ihm sprechen können", erklärt Daniela Kramer. Denn nicht immer sind Funktionsstörungen auf einen Schlaganfall zurückzuführen. Gerade bei älteren Patienten oder solchen mit anderen Erkrankungen wie etwa Demenz oder einem Infekt ist die Abgrenzung manchmal schwierig. Dafür muss der Neurologe selbst wahrnehmen können, wie der Patient sich bewegt, wohin er blickt oder wie er auf Fragen antwortet.

Zusammen mit den CT-Aufnahmen ergibt sich für den Neurologen ein Gesamtbild, ob mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Schlaganfall vorliegt. Walter Meding bekommt schon bald die erlösende Nachricht, dass das bei ihm nicht der Fall ist. Aber auch und vor allem die Patienten, bei denen sich der Verdacht bestätigt, profitieren enorm von der schnellen Diagnose.
Zwei Therapieverfahren gibt es, die bei einem akuten Schlaganfall helfen können: Die Thrombolyse (mittels Infusion gegebene Substanz, die Blutgerinnsel auflösen kann) und die Thrombektomie, bei der der Gefäßverschluss mittels Katheters beseitigt wird, erklärt Prof. Karl Georg Häusler, geschäftsführender Oberarzt an der Neurologie der Uni-Klinik Würzburg und ärztlicher Gesamtgeschäftsführer des Netzwerks. Je schneller ein Gefäß wieder eröffnet werden kann, desto eher wird das von der Sauerstoffversorgung abgeschnittene Hirnareal wieder durchblutet, und desto größer ist die Chance, dass dessen Funktionsfähigkeit erhalten bleibt.
Zeit ist von essentieller Bedeutung
Ob eine dieser Therapien zum Einsatz kommen soll, entscheidet der Neurologe im Verlauf der als"Konsil" bezeichneten telemedizinischen Beratung. Gibt er grünes Licht für eine Thrombolyse, kann diese im Krankenhaus vor Ort gleich eingeleitet werden. Das spart Zeit. Und Zeit ist, wie Daniela Kramer immer wieder betont, von essentieller Bedeutung. "Time is Brain" (Zeit ist Hirn) ist ein geflügeltes Wort unter Schlaganfall-Spezialisten. Nur in den ersten viereinhalb Stunden ist der Nutzen einer Thrombolyse bisher belegt. Wenn weiterführende Untersuchungen oder eine Thrombektomie angezeigt sind, kann der Neurologe die Verlegung des Patienten in ein dafür spezialisiertes Zentrum veranlassen.
Patienten mit Schlaganfall-Symptomen werden normalerweise vom Rettungsdienst ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Befindet sich dieses weit weg von großen medizinischen Zentren, würde sich ohne "Transit Stroke" die so wichtige Zeitspanne bis zum Beginn der Akuttherapie verlängern. Der Wunsch, die bestmögliche Akutversorgung flächendeckend zu ermöglichen, sei ursprünglich der Hauptgrund für "Transit Stroke" gewesen, sagt Häusler. Zudem spielt die Auswertung der Versorgungssituation eine bedeutende Rolle in der Arbeit des Netzwerks.

Die Ärzte am anderen Ende der Leitung empfinden das Netzwerk als enorm hilfreich. "Wir schätzen uns glücklich, als Partner angesprochen worden zu sein", sagt Dr. Joachim Stenzel, Chefarzt der Inneren Medizin an der Main-Klinik. Etwa 100 bis 120 Patienten lässt die Klinik jährlich telemedizinisch begutachten. Bei rund der Hälfte bestätigt sich der Verdacht "Schlaganfall". Schon früher habe die Main-Klinik auch Schlaganfallpatienten behandelt, sagt Stenzel. Vor der Etablierung der Lyse-Therapie seien die Möglichkeiten aber begrenzt gewesen. Als später die ersten Stroke-Units in der Region entstanden, seien Schlaganfallpatienten nur noch dort behandelt worden. Doch das Netz an Stroke Units sei anfangs lückenhaft gewesen, die Stationen hätten daher einen großen Andrang erlebt.
Der Ablauf wird immer wieder trainiert
Seit es "Transit Stroke" gebe, könnten alle Patienten in Ochsenfurt optimal behandelt werden, freut sich Stenzel. Die Ärzte der Inneren Medizin werden regelmäßig geschult, die Abläufe immer wieder trainiert. "Alle Kliniken zusammen haben Standards erarbeitet, die alle denkbaren Optionen abdecken", erklärt der Chefarzt. Jeder in der Main-Klinik weiß: Wenn ein Patient mit Schlaganfall-Symptomen kommt, wird alles andere stehen- und liegengelassen. "Zu jeder Zeit wird auf der Intensivstation ein Bett für Schlaganfallpatienten frei gehalten", sagt Stenzel. "Solche Patienten müssen und können wir immer aufnehmen."
Für den reibungslosen Ablauf müssten alle Beteiligten Hand in Hand arbeiten, sagt Dr. Manfred Knof, Chefarzt der Anästhesie in der Main-Klinik. Von den niedergelassenen Ärzten bis zu den Rettungsdiensten und Notärzten seien alle über das Netzwerk informiert und wüssten, was zu tun sei. Walter Meding ist längst wieder in seinem Alltag angekommen. Dass er von einem zweiten Schlaganfall verschont blieb, ist für ihn die Hauptsache.
Netzwerk "Transit Stroke" "Transit" ist die Abkürzung für "transregionales Netzwerk für Schlaganfall-Intervention mit Telemedizin", "Stroke" heißt Schlaganfall. Das Netzwerk wurde im Oktober 2014 gegründet. In ihm kooperieren im nordwestlichen Bayern und Umgebung zwölf Krankenhäuser dreier Stufen. Abgedeckt werden weite Gebiete Unterfrankens sowie die Region Kronach in Oberfranken. Rund eine Million Menschen leben in diesem Gebiet. Die telemedizinische Beratung übernehmen die Stufe-III-Kliniken. Etwa 130 Konsile werden pro Monat durchschnittlich durchgeführt. Stufe-I-Kliniken haben keine speziellen Schlaganfallabteilungen. Dazu zählen die Main-Klinik in Ochsenfurt, die Capio Franz von Brümmer Klinik in Bad Brückenau, die Helios Klinik Erlenbach, die Haßberg-Kliniken in Haßfurt, die Helios Frankenwaldklinik in Kronach und die Rotkreuz-Klinik in Wertheim. Stufe-II-Kliniken verfügen über regionale Stroke-Units und damit über einen Neurologen vor Ort. Im Netzwerk sind dies das Juliusspital in Würzburg sowie das Krankenhaus Lohr. In den Stufe-III-Kliniken bestehen umfassende Möglichkeiten zur Behandlung von Schlaganfällen. Es sind dies die Uni-Klinik Würzburg, die Neurologische Klinik Bad Neustadt an der Saale, das Leopoldina-Krankenhaus in Schweinfurt und das Klinikum Aschaffenburg (ohne Transit-Dienste). Die Investitionskosten des Netzwerks werden vom bayerischen Gesundheitsministerium gefördert. Den Regelbetrieb finanzieren die gesetzlichen Krankenkassen in Bayern.