Josef Konrad hat einen klugen Kopf und eine harte Faust. In der Maschinenbauschule bekommt er als erster ein Stipendium und im Boxring schlägt er sich gut. Er fällt einem amerikanischem Anwalt auf, der was versteht vom Boxen, und der sagt ihm: In Amerika kannst Du ein berühmter Mann werden.
Und so fährt Josef Konrad, lediger Sohn von Jakob und Anna Maria Konrad aus der Prymstraße, am 1. September 1922 mit dem Passagierdampfer „Reliance“ über den Atlantik, um ein großer Boxer zu werden. Bei einem Cousin in New York kommt er unter, im Ring macht er sich einen Namen, dann trifft er auf einen Gegner, der ihn bis zur Ohnmacht auf die Bretter prügelt.
Vielleicht haben die Hiebe ihn aus der Bahn geworfen, vielleicht war es etwas anderes. Seine Freundin macht Schluss mit ihm, er schlägt sie und schlägt sich auch mit der Polizei, die jemand gerufen hat. Im Gefängnis tobt er, man schafft ihn in eine Anstalt. Als er sich weigert zu essen, schieben die Behörden ihn ab.
Am 3. November 1925 kehrt Josef Konrad aus New York zurück. In Würzburg nimmt ihn die Psychiatrie der Uniklinik auf. Er ist ein geschlagener Mann, spricht nicht, isst nicht, sein Körper macht nicht mehr mit. Fast zehn Jahre lang bleibt er, dann zieht er in die Heil- und Pflegeanstalt Werneck um, für fünf Jahre. Im Oktober 1940 kommt er in die Heil- und Pflegeanstalt Lohr.
Sein Todesurteil ist da schon gesprochen. Ein Arzt hat es gefällt, nach Aktenlage. Grundlage ist kein Gesetz, sondern eine Entscheidung Adolf Hitlers: Der Reichskanzler befugte im September 1939 ausgewählte Ärzte, den „Gnadentod zu gewähren“ bei „nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken“.
Die Nationalsozialisten und ihre Mitläufer wollen auslöschen, was sie für „lebensunwertes Leben“ halten. Medizinischer Leiter ihres Mordprogramms, das später T4 genannt wird, ist ein Würzburger: Werner Heyde, Professor für Psychiatrie und Neurologie an der hiesigen Universität.
Wer schwach ist, sagen die Nazis, ist nichts wert und muss sterben
Josef Konrad, einst stark und klug, ist nicht mehr zu gebrauchen. Am 10. Dezember 1940 ermorden ihn Ärzte mit Gas in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Reutlingen. Er ist 37 Jahre alt geworden.
An diesem Donnerstag setzt der Kölner Bildhauer Gunter Demnig einen Stolperstein vor das Anwesen Berliner Straße 9. Früher war hier die Adresse Prymstraße 13a, das Zuhause der Konrads.
Es ist einer von 14 Stolpersteinen, die Demnig diesmal verlegt, alle sind Opfern der NS-Krankenmorde gewidmet. Der Würzburger Arbeitskreis Stolperstein zieht den Begriff „Krankenmord“ dem gebräuchlicheren „Euthanasie“ vor. Die Nazis sprachen von Euthanasie, um das Morden zu verbrämen. Das Wort kommt aus dem Griechischen bedeutet so viel wie „guter“ oder „schöner Tod“.
Die Deutschen nahmen „Euthanasie“ an Kindern leichter hin als an Erwachsenen
Die Heidelberger Medizinhistorikerin Maike Rotzoll berichtete vor zwei Jahren in der Uni Würzburg, dass der Krankenmord keine originär nationalsozialistische Idee ist. Schon vor den Nazis habe behindertes Leben nicht viel gegolten. Im ersten Weltkrieg ließen Ärzte 70 000 Patienten „im nationalen Interesse“ verhungern. In der Weimarer Republik wuchs der ökonomische Druck auf die Psychiatrie, unter den Nationalsozialisten eskalierte er tödlich.
Professor Hans-Michael Straßburg, bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand Leiter des Frühdiagnosezentrums der Uni-Kinderklinik in Würzburg, berichtet, Mitte des 19. Jahrhunderts sei auf der Grundlage von Darwins Entdeckung der Evolution die Erkenntnis gewachsen, dass „nur die kräftigen, fitten Kinder“ überleben sollten. Das Fortpflanzen geistig und seelisch behinderter Menschen sollte verhindert werden, um gesundes Erbgut zu sichern. Zur fatalen Idee gesellten Rasse-Ideologen eine fatalere: Das Ausrotten behinderter Menschen sei nötig, um die eigene Rasse zu erhalten und zu stärken.
Ohne Mitläufer hätte das Nazi-Regime nicht funktionieren können
In der nationalsozialistischen Praxis war das wichtigste Kriterium für das Überleben nicht die medizinische Diagnose, sondern die ökonomische Verwertbarkeit des Menschen – die Arbeitsfähigkeit. Zweites Kriterium war der Aufwand. Die Ärzte brachten verhaltensauffällige und störende Patienten eher um als unauffällige ruhige. Zwei Drittel der Eltern von behinderten Kindern waren laut Rotzoll einverstanden mit dem vermeintlichen Gnadentod. Die Zustimmung zum Mord an Erwachsenen sei geringer gewesen.
Historiker schätzen, dass die Nationalsozialisten etwa 300 000 Menschenleben auslöschten, wegen geistiger und körperlicher Behinderungen. Unter ihnen waren nach Angaben der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) mehr als 10 000 Kinder und Jugendliche. Lange haben die Kinderärzte ihre Schuld verdrängt. Erst im Jahr 2010 bekannten sie sich in einer gemeinsamen Erklärung zur „geistigen Miturheberschaft“ und zum „aktiven Mittun (…) an diesen Verbrechen“.
Sie beklagten „Mitläufertum und Meinungskonformismus, ohne die das Regime nicht hätte funktionieren können“.
Die Rasse-Ideologen haben auch Würzburger Kinder und Jugendliche ermordet.
Die traurige Geschichte von der blinden Katharina aus der Glockengasse
Da ist Katharina Lengler aus der Glockengasse in der Altstadt. Wenige Wochen nach ihrer Geburt erblindet sie. Als Dreijährige kommt sie ins Heim der St. Josefskongegration in Ursberg, Landkreis Günzburg. In ihrer Akte steht, sie sei geistig etwas zurückgeblieben, aber „gutmütig und durchaus gut erziehbar“. An „schwereren Defekten“ laboriere sie nicht.
14 Jahre lang bleibt Katharina in Ursberg, das tut ihr nicht gut. Sie hat Sprachstörungen, ist unruhig, schreit viel. Ende August 1941 wird sie in die „Kinderfachabteilung“ der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee verlegt. Nach einem Jahr bekommt sie epileptische Anfälle.
Theoretisch ist sie in Sicherheit. Nach massiven Protesten, besonders von Kardinal Clemens August Graf von Galen, stellen die Nationalsozialisten 1941 T4 ein. Aber das heißt nur, dass sie ihre Opfer nicht mehr vergasen. Jetzt bringen sie sie um mit tödlich dosierten Medikamenten oder lassen sie verhungern.
Alles nicht so schlimm, urteilen die Richter
„Hungerkost“ oder „E-Kost“ – „Entzugskost“ – sagen die Ärzte zum fettlosen Essen, das Katharina jetzt bekommt. Am 3. Mai 1944 stirbt sie. Der Klinikleiter Dr. Valentin Faltlhauser, als T4-Gutachter tief verstrickt in das Morden, unterzeichnet den Totenschein.
Nach dem Krieg erscheint den Richtern der Krankenmord als minderschwere Tat. Sie verurteilen Faltlhauser wegen „Anstiftung zur Beihilfe zum Totschlag“ zu drei Jahren Haft. Später begnadigen sie ihn. Er wird 85 Jahre alt.
Der Würzburger Professor Straßburg, der stellvertretender Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin ist, berichtet, dass die Idee vom „lebensunwerten Leben“ nicht am Ende war, als die Nazis geschlagen waren. Bis in die 1960er Jahre habe der Direktor der Universitätskinderklinik Kiel, Professor Werner Catel, die Ansicht vertreten, dass sinnvoll sei, schwerbehinderte Kinder zu töten. Catel wusste, wovon er sprach. Er hat es bis 1945 als Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik in großem Umfang praktiziert.
Wie präsent die Idee heute ist, zeigt die Lebensgeschichte des Felix Brenneckenstein. Vor sechs Jahren ist der Musiker aus der Neonazi-Szene ausgestiegen. Ein Grund dafür war, so erzählte er, dass seine Kameraden meinten, das Leben seines Bruders sei nichts wert, weil er behindert ist.