Gegen allzu neugierige Blicke von Landesgartenschau-Besuchern hinauf zu ihrem Balkon hat Marlene Lester ihre eigene Strategie entwickelt: Sie zückt ein Fernglas – und guckt demonstrativ zurück. „Die meisten lassen es dann sein“, sagt sie und lacht. Die 50-Jährige wohnt seit Ende August 2017 im ersten der neun Stadtbau-Häuser und ist eine wirkliche „Hubland-Pionierin“: „Die erste Nacht in der neuen Wohnung waren mein Sohn und ich die einzigen Bewohner im Haus, im Umkreis von einem Kilometer gab es sonst nur ein paar Feldhasen.“ Dass zunächst „nichts und niemand“ da war, empfanden die beiden, die ihre Stadtwohnung unter anderem wegen Lärm und Feinstaubbelastung verlassen hatten, als positiv. „Wir genießen die Freiheit und die Luft zum Atmen“, so Lester. Schnecken und Grashüpfer auf dem Balkon, ein Reh, das übers Gelände läuft – „das ist hier wie auf dem Dorf“, sagt Lester und strahlt.
"Ein Punk-Rock-Konzert auf der Tribüne im alten Park, gemischt mit Sirtaki-Klängen von der Festwiese."
Anwohnerin Marlene Lester über ihre LGS-"Lärm-Highlights"
Die LGS mit ihren Veranstaltungen wird die 50-Jährige, deren Wohnung und Balkon direkt an die Festwiese angrenzen, nach ihrem Ende im Oktober nicht vermissen. Besonders unangenehm in Sachen Lärm sei es, wenn mehrere Konzerte gleichzeitig stattfinden: „Eines meiner ‚Highlights‘ war ein Punk-Rock-Konzert auf der Tribüne im alten Park, gemischt mit Sirtaki-Klängen von der Festwiese.“ Sei es das Hupen von Fahrzeugen, die am frühen Morgen reihenweise für ein Oldtimer-Treffen aufs Gelände gelassen werden wollen, oder ein Heißluftballon auf der Festwiese, der immer wieder mit einem lärmenden Kompressor aufgeblasen wird: „Wir kriegen alles mit.“

Für das Leben am Hubland hat Marlene Lester „Hoffnung auf richtig gute Nachbarschaft“. Dafür wird sie selbst aktiv: So hat sie unter anderem den neuen Stadtteil beim sozialen Netzwerk „nebenan.de“ angemeldet, über das sich Nachbarn austauschen können, und ein erstes Grillfest für die Bewohner der Stadtbau-Häuser auf die Beine gestellt.
Schwierige Kommunikationspolitik
Über Offenheit und eine „durchmischte Nachbarschaft“ freut sich seit Ende 2017 auch Stephan Tysiak: „Hier sind alle in derselben Situation, das macht es leicht, Kontakte zu knüpfen." Der 28-Jährige sieht im Leben am Hubland viele Vorteile: „Ich bin schnell in der Stadt – und habe gleichzeitig ein ruhiges Umfeld.“ Wirklich ruhig ist es in seiner Wohnung, deren Schlafzimmer zu den Baustellen hinausgeht, momentan zwar nicht. „Die Baustellen und der Lärm werden die nächsten Jahre bleiben“, sagt Tysiak. „Dafür ist es schön, bei der Entstehung eines neuen Stadtteils dabei zu sein.“
Andere Einschränkungen machen ihm mehr zu schaffen. Dass die Straße zur Innenstadt seit Jahresbeginn gesperrt ist, empfindet er als „grenzwertig“, die Kommunikationspolitik zum Thema als schwierig: In einem Brief seien den Bewohnern der Stadtbau-Häuser eingeschränkte Zeiten für den möglichen Durchgang durchs LGS-Gelände genannt worden, die später gar nicht mehr gültig waren. So sei es für die Bewohner (abends nach einem Anruf beim Sicherheitspersonal) rund um die Uhr möglich, das LGS-Gelände zu durchqueren – dies wüssten allerdings die wenigsten. „Nach dem ersten Brief gab es keine weitere Information zum Thema, man fühlt sich ziemlich auf sich selbst gestellt“, so Tysiak.
"Wie komme ich hier weg?"
Von missglückten Versuchen von Besuchern oder Lieferdiensten, mit dem Auto zu ihrer Wohnung zu finden, kann Mira Singh-Ortgies berichten. Die Zufahrt zu den Stadtbau-Häusern, die nicht wie eine reguläre Straße aussieht, verwirrt viele. „Die meisten denken, man darf dort nicht weiterfahren.“ Auch das Navi sei oft keine Hilfe: Die Straßennamen des neuen Viertels sind vielen Geräten noch nicht bekannt. „Immerhin gibt es unsere Straße mittlerweile bei Google Maps“, sagt die 29-Jährige, die seit Jahreswechsel am Hubland wohnt.
„Ich sehe alles mit einem Schmunzeln.“
Mira Singh-Ortgies, Hubland-Bewohnerin
Dass es in der ersten Zeit keine Möglichkeit gab, zu Fuß einkaufen zu gehen, stellte die Mutter eines kleinen Sohns vor ein Problem: „Wie komme ich hier weg, wenn mein Mann mit dem Auto zur Arbeit verschwunden ist?“ Mit der Fertigstellung eines Fußwegs zu einem Gerbrunner Supermarkt und der Eröffnung des Hubland Center sei das Problem für sie behoben gewesen. „Ich sehe alles mit einem Schmunzeln“, sagt sie. Vieles müsse sich erst einspielen, „aber das hat man ja auch irgendwie gewusst.“
Baustellen-Liebe
Vor allem die Nähe zu ihrer Arbeitsstätte, der Universität, war für Nora Halfbrodt ausschlaggebend für ihre Entscheidung, ans Hubland zu ziehen. Die 26-Jährige lebt seit Oktober 2017 in einem der Stadtbau-Häuser, deren Balkone direkt an das LGS-Gelände angrenzen. „Oft bleiben Besucher stehen, schauen sich alles genau an und machen dann ein Foto“, sagt die Doktorandin, die im Sommer viel auf dem Balkon arbeitet. An Wochenenden und Feiertagen strömten den ganzen Tag Menschen übers Gelände, drei bis vier Fotos pro Stunde seien da keine Seltenheit, so Halfbrodt. Sie hat deshalb ein Schild an ihrem Balkon angebracht: eine durchgestrichene Kamera soll Besucher zu mehr Distanz auffordern.
„Prinzipiell ist es schön, dass etwas los ist“, sagt Esther Bentmann über die Nähe ihrer Wohnung zur LGS. Sie wohnt mit ihrer Familie ebenfalls seit Oktober am Hubland und nutzt mit ihren zwei kleinen Söhnen auf der LGS vor allem die Spielplätze. Für ihre Kinder haben auch die Baustellen einen Reiz: „‘Bagger‘ ist hier oft das erste begeisterte Wort am Morgen“, sagt sie und lacht. Sie selbst hatte beim Einzug einen „kleinen Schock“ und erinnert sich an zahlreiche Baustellen auch in den Häusern sowie an Wintermonate, „in denen man nur wenige Nachbarn gesehen hat“. Dass der Austausch zwischen den Bewohnern vom Vermieter - beispielsweise durch Kennenlern-Veranstaltungen - gefördert wird, findet die 32-Jährige positiv. Zudem sei ihre Wohnung schön, „wir haben uns schnell zuhause gefühlt.“
Schönste Sonnenuntergänge
Die Schwierigkeiten der Anfangszeit einfach ausgelassen hat Bärbel Graupner. Die 76-Jährige ist erst seit Juli 2018 Hubländerin und wohnt im neunten und zuletzt fertiggestellten Stadtbau-Haus. „Ich bin hier sehr zufrieden, von meinem Balkon aus sehe ich die schönsten Sonnenuntergänge“, schwärmt sie. Dass sie München, ihre Wahlheimat für 30 Jahre, so leicht zurücklassen würde, hat sie selbst überrascht.
Ihre neue Umgebung kann bei Bärbel Graupner, die sich selbst als „Landmensch“, bezeichnet, punkten: „Ich gehe täglich auf dem LGS-Gelände spazieren, dabei entdecke ich jedes Mal etwas Neues.“ Die Blumenschau, vertikale Gärten, neue Heilkräuter – die 76-Jährige, für die die Nähe zur Familie Hauptauslöser für den Umzug war, nutzt die Landesgartenschau intensiv. Wehmut empfindet sie im Hinblick auf das Ende der LGS dennoch nicht: „Der Park bleibt, und man kommt ohne die Absperrungen leichter in die Stadt.“
Annika Bock, die seit Mai 2018 am Hubland wohnt, freut sich auf den geplanten Gemeinschaftsraum der neun Stadtbau-Häuser, für dessen Verwendung unter den Bewohnern bereits viele Ideen kursieren. Sie kann sich vorstellen, dort Workshops zu besuchen und selbst einen zu geben. Was die Zukunft des Hublands angeht, ist die 30-Jährige positiv gestimmt: „Wenn alles einmal fertig ist, wird es sicherlich ein sehr schöner Stadtteil.“