Der Würzburger Verein Wildwasser hat ein "Boomjahr" hinter sich. Die Erstanfragen von Fachkräften, Schulen und Journalisten schnellten ebenso in die Höhe wie die Nachfrage von Gewaltopfern nach Beratung. Woran das liegt? Eine eindeutige Antwort gibt es laut Geschäftsführerin Antje Sinn nicht. Zu vermuten steht, dass die #MeToo-Kampagne Frauen in der Region Mut machte, Hilfe zu suchen. Der Verein bemühte sich gleichzeitig durch intensive Öffentlichkeitsarbeit darum, auf sich aufmerksam zu machen.
100 Erstanfragen mehr
Keine Woche vergeht, ohne dass die Fachberatungsstelle nicht mehrfach um Informationen, Rat oder Hilfe gebeten wird. Insgesamt 415 Mal wurde Wildwasser im vergangenen Jahr erstmalig kontaktiert, geht aus dem am Dienstag präsentierten Jahresbericht für 2017 hervor. "Das waren 100 Erstanfragen mehr als im Jahr zuvor", so Sinn. Die Beratungen nahmen um 30 Fälle zu: "Wobei es sich teilweise um sehr komplexe, zeitintensive Fälle handelte."
Weil es oft kompliziert ist, mit einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch umzugehen, erarbeitete Wildwasser zusammen mit weiteren Organisationen umfangreiche "Empfehlungen" für Fachkräfte, die 2017 veröffentlicht wurden. Darin wird zum Beispiel davor gewarnt, einen mutmaßlichen Täter vorschnell mit dem Verdacht zu konfrontieren, er hätte ein Kind missbraucht.
Die Eltern eines Missbrauchsopfers sollten nur dann einbezogen werden, wenn sicher ist, dass der vermutete Missbrauch nicht innerhalb der Familie geschah. Erhärtet sich der Missbrauchsverdacht nach dem Gespräch mit dem Kind, sollte das Jugendamt kontaktiert werden.
Engagement für weibliche Gewaltopfer
Keine andere Einrichtung in Würzburg wird so intensiv wie Wildwasser mit Unterstützungsangeboten für missbrauchte Mädchen in Verbindung gebracht. Tatsächlich macht diese Arbeit jedoch nur ein Drittel des gesamten Engagements für weibliche Gewaltopfer aus. Aber auch in diesem Beratungsfeld gab es 2017 Auffälligkeiten, so Sinn.
So stieg die Zahl der im Alter von unter sieben Jahren missbrauchten Mädchen an. Von allen missbrauchten Klientinnen waren rund 20 Prozent Opfer des eigenen Vaters. Aber auch Stiefväter und Brüder missbrauchen Minderjährige. Nach wie vor kommt es außerdem vor, dass sich ein Priester an einem Kind vergeht.
Hilfe bei Stalking oder seelischer Gewalt
Die meisten Ratsuchenden, die sich an Wildwasser wenden, sind über 18 Jahre alt. Die Frauen berichten von Vergewaltigungen, sexueller Nötigung, Gewalterlebnissen in einem Kriegsland oder auf der Flucht. Auch Zwangsprostitution und Stalking sowie körperliche und seelische Gewalt sind Gründe, die Beratungsstelle aufzusuchen.
Vor allem seelische Gewalt kann gravierende Folgen haben, erläutert Wildwasser-Beraterin Gisela Höhl: "Die Frauen verlieren durch jahrelange Herabwürdigungen, verbale Angriffe und Demütigungen jegliches Selbstwertgefühl."
Bis sie sich entschließen, über das, was ihnen zugestoßen ist, einmal mit einer Expertin zu sprechen, kann es lange dauern, sagt Höhl. Nach einer Vergewaltigung gehen oft Wochen, teilweise aber auch Monate oder Jahre ins Land, bis die Frauen sich trauen, das Gespräch zu suchen. Über das schreckliche Erlebnis zu reden, hilft, auch wenn die Vergewaltigung weit zurückliegt. "Allerdings macht es die Strafverfolgung schwierig", so Höhl. Dem Verein sind derzeit über alle Gewaltdelikte hinweg lediglich 50 laufende Strafverfahren bekannt. In einem knappen Drittel aller Beratungsfälle wird keine Strafanzeige gestellt.
Bittere Erfahrungen vor Gericht
Nur selten erfahren die Wildwasser-Mitarbeiter davon, dass ein Täter verurteilt wird. Das geschah im vergangenen Jahr zwölf Mal. 22 Verfahren wurden eingestellt. Höhl: "Was für Frauen, die sich auf den schweren Weg begeben haben, Strafanzeige zu stellen, sehr bitter ist".
Was die Spendensituation anbelangt, war 2017 ein sehr gutes Jahr für den Verein. Inzwischen können 15 Prozent der Gesamtkosten durch Spenden gedeckt werden. Wobei das siebenköpfige Hauptamtlichen-Team inzwischen aber auch viel Zeit investieren muss, um Spenden und Bußgelder einzuwerben, Veranstaltungen wie das Entenrennen zu organisieren oder Projektfördermittel an Land zu ziehen. Durch eine Förderung der "World Childhood Foundation" gelang es, ein umfangreiches Angebot für Flüchtlingskinder mit sexueller Gewalterfahrung aufzubauen. Diese Mittel allerdings werden 2019 nicht mehr zur Verfügung stehen.
Wildwasser Würzburg e.V.Am 11. Oktober startet eine neue Gruppe für Frauen, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erlebt haben. Die Frauen treffen sich im 14-tägigen Rhythmus bis Mitte Februar 2019 insgesamt zehn Mal. Erstmals ist das Angebot kostenlos. Vor der Aufnahme sollte ein Vorgespräch geführt werden. Wildwasser ist montags bis donnerstags von 13 bis 14 Uhr und zusätzlich dienstags von 16 bis 18 Uhr sowie donnerstags von 9 bis 11 Uhr unter (0931) 13287 erreichbar. Dienstags sind Mädchen und junge Frauen von 14 bis 16 Uhr zu einer Offenen Beratung in der Geschäftsstelle (Kaiserstraße 31) eingeladen. Per Mail kann der Verein unter info@wildwasserwuerzburg.de kontaktiert werden.