Im Juli 1950 beweisen die Würzburger allen Zweiflern, dass es in ihrer Stadt auch wirtschaftlich wieder aufwärts geht. Auf den Mainwiesen in der Zellerau öffnet die erste Mainfranken-Messe ihre Pforten.
In Zelten und auf einem Freigelände präsentieren Firmen aus Würzburg und dem Regierungsbezirk ihre technischen Errungenschaften für Landwirtschaft, Handwerk und Industrie.
Vor allem der 53-jährige Georg Sittig, meist nur „Sittig Schorsch“ genannt, hat sich bei den amerikanischen Behörden für die Schau eingesetzt.
Der Erfolg gibt ihm recht: „Riesiger Betrieb aus der Umgegend“, notiert Otto Seidel, Hausmeister in der Universitätsaugenklinik, in seinem Tagebuch: „großer Betrieb in dem ausgebombten, sonst stillen Würzburg.“
Der Sozialdemokrat Georg Sittig ist hauptamtlicher zweiter Bürgermeister der Stadt und in dieser Funktion auch ein Garant für Kontinuität an der Rathausspitze. Die Oberbürgermeister selbst können für die nötige Beständigkeit nicht sorgen. Auf den im April 1945 von den Amerikanern als Nachfolger des NSDAP-Manns Theo Memmel eingesetzten Gustav Pinkenburg folgt im Juni 1946 für sieben Wochen der Jurist Michael Meisner, der allerdings schon Landrat ist und daher den OB-Posten wieder aufgeben muss.
Der nächste Oberbürgermeister ist Hans Löffler, der das Amt bereits von 1921 bis 1933 innehatte und im Juni 1948 aus Altersgründen – er ist 76 Jahre alt – zurücktritt. Der gewählte Nachfolger Hermann Hagen tritt den Posten gar nicht erst an und OB Karl Grünewald bleibt nur ein Vierteljahr, bevor ihm Probleme bei der Entnazifizierung in die Quere kommen. Erst mit dem siebten Oberbürgermeister in vier Jahren, Franz Stadelmayer, tritt ab 1949 eine gewisse Ruhe ein.
Der 1896 geborene Georg Sittig hat seine Jugend auf einem Bauernhof in der Nähe von Unterdürrbach verbracht. Nach der Lehre als Maschinenschlosser bei Koenig & Bauer ist er im Ersten Weltkrieg Obermaat und Bordfunker auf einem U-Boot. Zweimal entkommt er nur knapp dem Tod.
Der Vater zweier Töchter ist von 1922 bis 1930 Betriebsratsvorsitzender bei KoeBau und wird im Dezember 1929 für die SPD in den Stadtrat gewählt, dem er bis zur erzwungenen „Gleichschaltung“ 1933 angehört. Als Parteisekretär der SPD tritt als in vielen Versammlungen auf; 1933 ist er mehrere Wochen in „„Schutzhaft“. Gezwungen, sich eine neue Existenz aufzubauen, verlegt er sich auf den Verkauf und Transport von Kohle und Holz. 1942 folgt die erneute Einberufung zur Marine.
Am 31. März 1945 kommt Sittig in die Heimatstadt zurück. Er will zu seiner Familie, die in einem Gartenhäuschen oberhalb Veitshöchheims Unterkunft gefunden hat. Auf dem Weg durch das Dürrbachtal erlebt er den Angriff der US-Luftwaffe auf Unterdürrbach mit; gleich packt er mit an und hilft, einen Brand zu löschen. Von „bulliger Energie“ und „einem angeborenen Sinn für das praktisch Notwendige“ sprechen Menschen, die damals seinen Weg kreuzen.
Sittig stellt sich der Stadtverwaltung zur Verfügung und übernimmt am 1. Juni 1945 als berufsmäßiger Stadtrat das Bevölkerungs- und Personalreferat, ein Jahr später als hauptamtlicher Bürgermeister zusätzlich die besonders arbeitsintensiven Ressorts Wirtschaft, Wiederaufbau und Wohnungswesen. Es fehlt nicht nur an Wohnungen und Baumaterial, sondern auch an qualifizierten Mitarbeitern. 1945 sind auf Anordnung der Militärregierung im städtischen Verwaltungsapparat über 200 Beamte und fast 100 Angestellte wegen ihrer Verflechtung mit der NSDAP entlassen worden.
Sittigs Büro ist Anlaufstelle für alle, die mit Wiederaufbau und Wohnungsproblemen zu kämpfen haben – und das sind praktisch alle. Als die Bürger zum „Ehrendienst“ beim Trümmerräumen verpflichtet werden, ist er dabei. Ein Augenzeuge erinnert sich daran, wie er „kraftvoll mit der Schaufel hantierte und in der Reihe mit vielen anderen die Loren mit Trümmersteinen belud.“
Der „Sittig Schorsch“ mit seinen aufgekrempelten Hemdsärmeln und der geliebten Virginia-Zigarre im Mund wird so – ebenso wie die „Trümmerfrauen – zu einer Symbolfigur für die Weigerung der Würzburger, sich passiv in ihr Schicksal zu ergeben.
Georg Sittig, der Verfolgte des Nationalsozialismus, kennt gegenüber den Amerikanern keine Unterwürfigkeit und scheut sich nicht, unpopuläre Wahrheiten auszusprechen. Unvergessen sind seine Auseinandersetzungen mit US-Stadtkommandant Melvin B. Vorhees, an die Markus Amling erinnert: „In einer seiner öffentlichen Reden hielt er den Offizieren der Besatzungsmacht vor, dass man nicht alle Deutschen pauschal als Nazis verurteilen dürfe. 1936 seien bei den Olympischen Spielen in Berlin auch die Amerikaner mit erhobener Hand an Hitler vorbeimarschiert und hätten dessen System gewissermaßen akzeptiert. Dieser recht gewagte Vergleich brachte Georg Sittig einige Monate Redeverbot ein.“
„1936 sind bei den Olympischen Spielen in Berlin auch die Amerikaner mit erhobener Hand an Hitler vorbeimarschiert.“
Bürgermeister Georg Sittig zum amerikanischen Stadtkommandanten
Anfang Juli 1948, nach dem Rücktritt von Hans Löffler, wäre der in der Stadt äußerst populäre „Schorsch“ Sittig fast zum Oberbürgermeister gewählt worden. Letztlich ist aber der Stadtrat, bei dem damals noch die Entscheidung liegt, nicht dazu bereit, einem Sozialdemokraten dieses Amt anzuvertrauen. So erhält Hermann Hagen 20 Stimmen, Sittig immerhin 16.
Otto Stein, der zeitweise als ehrenamtlicher dritter Bürgermeister amtiert, erinnert sich: „Nach langem, mit unerquicklichem Intrigenspiel gewürzten Hin und Her ließ sich Dr. Hagen, ohne jemals seine Amtstätigkeit aufgenommen zu haben, wegen schwerer Krankheit entpflichten. Das Interregnum führte Herr Sittig als gewählten zweiter Bürgermeister mit Geschick und aufopfernder Hingabe.“ Auch nach dem kurzen Gastspiel von Karl Grünewald, den der Stadtrat ebenfalls dem bewährten Bürgermeister vorgezogen hat, muss Sittig wieder der Karren aus dem Dreck ziehen. Mehrere Monate später wird Franz Stadelmayer zum OB gewählt.
Wahrscheinlich unter dem Eindruck dieser wiederholten Zurücksetzung kandidiert Georg Sittig 1950 für den Bayerischen Landtag, dem er bis 1958 angehört. 1952 endet seine Amtszeit als Bürgermeister und er kehrt im Sommer 1952 als Betriebsleiter des Werks II von Koenig & Bauer in der Grombühlstraße zu seinem früheren Arbeitgeber zurück. Er stirbt am 22. August 1964.
An den Mann der ersten Stunde erinnert heute die Georg-Sittig-Straße, eine kleine Stichstraße, die von der Ebertsklinge abzweigt. Ganz in der Nähe ist die kaum längere Franz-Stadelmayer-Straße zu finden. Seit 1991 verleiht die Würzburger SPD die Georg-Sittig-Medaille für Verdienste um die Stadt Würzburg im Sinne der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Zukunft, die aus Trümmern wuchs
Das Buch
Wir entnahmen die Texte und Bilder auf dieser Seite dem Buch „Zukunft, die aus Trümmern wuchs. 1944 bis 1960: Würzburger erleben Krieg, Zerstörung und Wiederaufbau“ von Main-Post-Redakteur Roland Flade. Beschrieben wird darin der Untergang Würzburg und wie in den folgenden 15 Jahren eine neue Stadt entstand. Der Band bietet auf 336 Seiten Augenzeugenberichte, 151 meist unveröffentlichte Fotos (49 davon in Farbe) und ergänzende Texte des Autors über typische Würzburger.
Die DVD Die DVD „Hoffnung, die aus Trümmern wuchs“ (Laufzeit 105 Minuten) von Roland Flade und Main-Media-Redakteurin Angelika Kleinhenz bietet Filme des unzerstörten Würzburg, der Bombardierung, der Situation im Mai 1945 und der Trümmerräumung, dazu Interviews und Zeitzeugenberichte.
Geschichte im Internet
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