Wie gut er sich erinnerte: An die unterfränkischen Viehhändler, die am Schabbat von der Synagoge aus ins Wirtshaus gingen, ihr Bier tranken, sich auf dem Marktplatz rangelten und sich dann den Staub von den Kleidern klopften, um zum Nachmittagsgebet wieder zurück in der Synagoge zu sein. In der Autobiografie, die er begonnen hatte, widmete Leo Trepp dem Dörfchen Oberlauringen im Landkreis Schweinfurt viele Seiten. Er liebte den Ort, aus dem seine Mutter stammte und in dem er als Kind bei den Großeltern viele Sommerferien verbracht hatte.
Im Jahr 2010 starb Leo Trepp, 97-jährig, in San Francisco. Seine Autobiografie blieb unvollendet. Als sich Gunda Trepp nach Jahren des Schmerzes daran machte, die Lebenserzählung aufzuarbeiten und Erinnerungen zusammenzutragen, da wollte sie die Erinnerungen an Oberlauringen nicht kürzen. „Ich hätte riskiert, dass seine Botschaft verloren geht. Es ist eine einfache und zugleich, wie alles was mit der Auslöschung des jüdischen Lebens in Europa zu tun hat, komplexe Botschaft: Die Landjuden waren da. Sie lebten überall in Deutschland.“
Leo Trepp. Der letzte deutsche Rabbiner aus der Zeit des Nationalsozialismus. Verfolgt, nach der Pogromnacht verhaftet, aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach drei Wochen wieder entlassen, erst nach England, dann in die USA entkommen. Nach dem Krieg Theologieprofessor und Rechtsphilosoph in Kalifornien. Ein Mann mit festen Grundsätzen, der Orthodoxie verpflichtet. Ein Mann, der der festen Überzeugung war, dass die Nachkommen der Täter keine Schuld trügen. Aber auch, dass es ohne Erinnerung an die Terrorzeit keine Zukunft für Deutschland geben werde. Der Bücher auf Deutsch schrieb, für den jüdisch-islamischen Dialog eintrat und es für wichtig hielt, dass auch Nichtjuden seine Vorträge hörten.
Nicht nur zu Oberlauringen, auch zu Würzburg hatte Leo Trepp eine besondere Beziehung. Er war der letzte Jude, der an der Julius-Maximilians-Universität promovieren konnte. Anfang der 1930er Jahre war Trepp seinem Bruder gefolgt, der in Höchberg am jüdischen Lehrerseminar studierte. Trepps Doktorvater, der Romanist Adalbert Hämel, war Mitglied der SA. Doch er half dem jüdischen Doktoranden, unterstützt vom Zweitprüfer, dem Psychologen Karl Marbe. 75 Jahre später, im Jahr 2010, wenige Monate vor seinem Tod, zeichnete die Universität Würzburg Leo Trepp mit der Ehrenmitgliedschaft aus.
Frage: Frau Trepp, was hätte Ihr Mann dazu gesagt, dass jetzt eine rechte, rechtsextreme Partei in den bayerischen Landtag einzieht?
Gunda Trepp: Eine interessante Frage. Er hat sich ja 2005 in seiner Rede zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz geäußert. Er hat damals im Landtag von Rheinland-Pfalz gesagt, es ist eine Schande, dass heute – damals bezogen auf Sachsen – wieder eine rechtsradikale Partei in ein Parlament einzieht. Er sagte: „Es ist eine Gefahr, wenn in Sachsen die Rechten fast so viele Stimmen bekommen wie einst die Sozialdemokratische Partei, die als Einzige gegen das Ermächtigungsgesetz von Hitler gestimmt hatte.“ Ich glaube, er würde es als Schande bezeichnen, dass eine Partei wie die AfD, die offen antisemitische Mitglieder hat, jetzt in einem weiteren Landtag sitzt. Nicht zu vergessen, die Forderungen, die die AfD in ihrem Parteiprogramm stellt, wie das Beschneidungs- und Schächtungsverbot, das beides essenziell ist für jüdisches Leben in Deutschland. Mein Mann wäre erschreckt, schockiert. Und er würde sich wahrscheinlich viel mehr Gegenbewegung wünschen.
Ausgerechnet in dieser Partei gibt es jetzt eine Interessensgemeinschaft „Juden in der AfD“.
Trepp: Naja, da schreibt mein Mann ja, dass es das immer gegeben hat: ignorante Menschen, die es nicht besser wissen. Zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es die nationaldeutschen Juden, die eine antidemokratische Haltung hatten und gegen die Ostjuden hetzten. Es gibt eine riesige Gegenbewegung in der jüdischen Gemeinschaft gegen diese Formierung in der AfD. Mein Mann hat immer gesagt: Nur Antisemiten sagen, dass alle Juden ganz besonders klug sind.
Sie haben seine autobiografischen Skizzen nun ergänzt. Aus welcher Motivation?
Trepp: Ich denke, dass das deutsche Judentum den Menschen noch einiges zu sagen hat. Von den Juden können wir eine Menge lernen. Von ihrer Offenheit, von der Fähigkeit beides, Deutsche und Juden, zu sein, beides mit voller Hingabe und voller Überzeugung. Auch das kritische Hinterfragen, das Nicht-Stoppen, immer Weiterentwickeln, das hat mein Mann in vielerlei Hinsicht wirklich geprägt. In seinem religiösen Leben als auch im gesellschaftlichen. Es gab für ihn keinen Stillstand, es musste immer weitergehen. Stillstand hieß für ihn Rückschritt. Davon kann man eine Menge lernen.
Sie selber sind Jüdin?
Trepp: Ja. Ich bin übergetreten, ziemlich schnell, nachdem ich meinen Mann kennengelernt hatte. Ich hatte schon seit Jahren mit dem Gedanken gespielt, es aber nie getan, weil ich in Deutschland lebe und Deutsche bin. Ich hatte Hemmungen und dachte, so einfach kannst du es dir nicht machen, dich auf die andere Seite zu stellen, von den Tätern zu den Opfern. Es war mein Mann, der gesagt hat: Die Shoa ist doch nicht das, was die Juden ausmacht! Wenn du es der jüdischen Religion und Kultur wegen willst, wenn du denkst, dass der eine, einzige Gott der Juden dein Gott ist, dann solltest du Jüdin werden.
Was sagen Sie im Nachhinein: Waren die Hemmungen unbegründet?
Trepp: Die ganzen Traumata, die ich in meinem jüdischen Freundeskreis mitbekomme – das ist eben nicht meine Geschichte. Sie gehören aber zum Jüdisch-Sein auch dazu. So wie die jüdische Kultur, die jüdische Familie.
Was hat Ihr Mann an Deutschland gemocht?
Trepp: Alles. Er hat das Land sehr geliebt. Die tiefe Trauer, dass Deutschland nicht mehr seine Heimat sein konnte, ging bis zu seinem Lebensende. Er mochte die Landschaft, die Alpen, das Rheingau, er hat den Rhein über alles geliebt. Und den Menschenschlag dort.
Was störte ihn?
Trepp: Die Rechthaberei. Dass Diskussionen zu schnell abgewürgt werden. Dass man sich keine Zeit nimmt. Dass Berlin nach der Entscheidung, dass es wieder Hauptstadt wird, so unglaublich schnell wieder groß und pompös wurde, hat ihm sehr missfallen. Das hat ihm Angst gemacht, dieses ganz schnelle Vorantreiben. Seine Befürchtung war, dass dabei in Vergessenheit gerät, was nicht in Vergessenheit geraten darf.
Sie sagten, Stillstand war für Leo Trepp Rückschritt. Aber es kam ihm nicht auf das Tempo an?
Trepp: Nein, auf Reflexion. Es ging immer darum, etwas auch infrage zu stellen. Und es ging ihm um Dialog.
Sie sagten, Deutschland konnte für Ihren Mann keine Heimat mehr sein. War die Rückkehr immer ausgeschlossen?
Trepp: Ja. Diesen Schritt konnte er nicht gehen. Ihm wurde ja von politischer Seite mehr oder weniger der deutsche Pass angeboten, das gehe sehr schnell. Mein Mann sagte: Mein Heimatland hat mich hinausgeworfen, sie wollten mich nicht mehr haben. Amerika hat mein Leben gerettet, jetzt ist Amerika meine Heimat. Die Loyalität seiner neuen Heimat gegenüber war ihm wichtig. Deutschland hat er immer seine „gestohlene Heimat“ genannt. Er war darüber sehr traurig.
Wurden ihm die USA eine Wohlfühl-Heimat?
Trepp: Nicht nur mit Rassismus, auch mit Antisemitismus hat er sich in den USA sehr auseinandergesetzt. Er war ja zunächst in den Südstaaten in den 1940er Jahren. Er ist dort gegangen, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Diskriminierung konnte er nicht ertragen. Napa in Kalifornien war ihm eine wirkliche Heimat. Das Napa Valley, das Weinland, hat ihn wohl ans Rheinland erinnert. Vor allem waren ihm jüdische Literatur, neue jüdische Philosophen und Musik Heimat – die hatte er überall.
Wie würde Leo Trepp den amtierenden Präsidenten bewerten?
Trepp: Trump? Das kann ich nicht sagen. Leo Trepp hat immer demokratisch gewählt und hatte Tränen in den Augen, als Barack Obama Präsident wurde. Jetzt Donald Trump, der gegen alles steht, für das Leo Trepp stand. Nämlich Reflexion, Hinterfragen, jeden Menschen zu respektieren und zu achten, allein weil er Mensch ist. Er hätte die derzeitige Politik als indiskutabel ziemlich verachtet.
Wenn Leo Trepp den deutschen Pass nicht wollte. Wie viel hat ihm die Ehrenmitgliedschaft der Universität Würzburg bedeutet. Hat er sich darüber einfach gefreut – oder war es Genugtuung?
Trepp: Er hat sich wirklich sehr gefreut. Für ihn bedeutet das auch vor allem eine Anerkennung seiner beiden Doktorväter, die er wirklich bewundert hat, Adalbert Hämel und Karl Marbe. Er hat sie geachtet für das, wofür sie standen: aufrecht zu sein in einer Zeit, in der fast keiner mehr aufrecht war.
Beim Schreiben des Buches – haben Sie über Ihren Mann etwas Neues gelernt, etwas Überraschendes erfahren?
Trepp: Was ich nicht wusste, und er selbst ganz offensichtlich auch nicht: Seine Mutter hat schon vor der Pogromnacht versucht, ihn und seinen Bruder aus Deutschland hinaus zu bekommen in die USA. Die Familie hatte dort ja Angehörige aus Unterfranken, die Lehmanns. Aber die Verwandten in den USA konnten nicht helfen.
Was sollte von Leo Trepp im Gedächtnis bleiben?
Trepp: Dass er gezeigt hat, dass man Authentizität nur vermitteln kann, wenn man weiß, wer man ist und für seine Überzeugungen auch einsteht. Dass man immer bereit ist, auf andere zuzugehen, auf andere einzugehen, anderen wirklich zuzuhören. Was mich beeindruckt hat, war seine Kunst des Dialogs. Sich dem anderen öffnen, annehmen, was er sagt, es verarbeiten – und dann gibt es eine Gegenrede. Dafür stand Leo Trepp. Und er stand dafür, dass man einerseits tief religiös sein kann und dennoch so offen, politisch und liberal.
Das Buch und zwei Lesungen Gunda Trepp hat nach Jurastudium und Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule als Anwältin und Journalistin für Zeitungen wie Spiegel, FAZ und Berliner Zeitung gearbeitet. Die 59-Jährige lebt heute als Autorin in San Francisco und Berlin. Über ihren Mann Leo Trepp hat Gunda Trepp jetzt die Biografie geschrieben. Sie trug zur unvollendeten Autobiografie Erinnerungen zusammen, ergänzte, kommentierte und erzählt schließlich von einem tief religiösen, außergewöhnlichen deutsch-jüdischen Leben: „Der letzte Rabbiner – Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp“, Verlag wbg Theiss, Darmstadt, 284 Seiten, 39,95 Euro Nach Unterfranken kommt Gunda Trepp nun für zwei Lesungen: Am Donnerstag, 25. Oktober, ist sie um 19 Uhr zu Gast in der Kirche in Oberlauringen (Lkr. Schweinfurt). Am Freitag, 26. Oktober, stellt sie das Buch um 19 Uhr in der Universitätsbibliothek Würzburg am Hubland vor.