Das neue Polizeiaufgabengesetz stößt in Teilen der Bevölkerung auf massive Kritik. Kritikern gehen die Befugnisse der Beamten viel zu weit. Gar von einem „Polizeistaat“ ist die Rede. Das ärgert Gerhard Kallert. Im Interview erklärt der unterfränkische Polizeipräsident, warum das Gesetz aus seiner Sicht sinnvoll ist.
Frage: Das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) ist seit einer Woche in Kraft. Wurde es in Unterfranken schon angewandt?
Gerhard Kallert: Nicht in konkreten Fällen. Aber wir müssen laufende Ermittlungen der neuen Rechtslage anpassen. Wo wir beispielsweise einen verdeckten Ermittler eingesetzt haben, lassen wir diese Maßnahme von einem Richter neu genehmigen. Zum anderen müssen wir unsere internen Abläufe überprüfen, was Anordnungen angeht. Da sind wir momentan dabei.
Hätten Sie überhaupt genug Personal, um all Ihre Befugnisse auch in Anspruch zu nehmen?
Kallert: Einige Kritiker sagen ja, wir brauchen keine neuen Polizeigesetze, sondern neue Polizeibeamte. Das eine lässt sich mit dem anderen nicht ausgleichen. Natürlich brauche ich, um etwa einen islamistischen Gefährder zu observieren, entsprechendes Personal. Aber was nützt es, wenn ich das nötige Personal habe, aber nicht die Befugnis, für die Observation?
Bayern gilt als sicherstes Bundesland. Braucht es das neue PAG?
Kallert: Ja. Weil die europäische Datenschutzgrundverordnung umgesetzt werden muss und darüber hinaus alle Bundesländer verpflichtet sind, ihr PAG an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum BKA-Gesetz anzupassen. Wichtige Neuerungen sind aber auch Anpassungen, die die Polizei vorgeschlagen hat: Anpassungen an die fortschreitende Technik und für eine effizientere Terrorabwehr. Da gehören unter anderem die DNA-Analyse unbekannten Spurenmaterials und der Einsatz von Drohnen dazu. Das sind gute Hilfsmittel, etwa bei Vermisstensuchen. Drohnen machen allerdings Fotos und deshalb gehört ihr Einsatz mit einer eigenen Befugnisnorm gesetzlich geregelt.
Sie haben das BKA-Urteil des BVG angesprochen. Aus dem Urteil wurde der Begriff der „drohenden Gefahr“ übernommen. Kritiker halten den Begriff für verfassungswidrig. Ist der Begriff zu schwammig?
Kallert: Mir leuchtet ein, dass sich Bürger nur schwer etwas darunter vorstellen können. Polizisten und Juristen dürften damit aber kein Problem haben. Schon seit Jahrzehnten stehen im PAG mehrere Gefahrenarten: konkrete Gefahr, abstrakte Gefahr, dringende Gefahr, Gefahr im Verzug und andere. Alle diese Gefahren sind unbestimmte Rechtsbegriffe und müssen ausgelegt und definiert werden. Damit mussten wir bislang auch umgehen. Der neue Begriff „drohende Gefahr“ ist jedenfalls keine Erfindung der Polizei, um Befugnisse auszudehnen und steht im Übrigen schon seit dem 1. August 2017 im Polizeiaufgabengesetz.
Erklären Sie uns den Begriff?
Kallert: Früher sind die Fälle, die wir jetzt unter „drohende Gefahr“ darstellen, überwiegend als „konkrete Gefahr“ definiert worden. 2016 hat das BVG aber ausgeführt, dass zum Vorliegen einer „konkreten Gefahr“ Zeit und Ort der geplanten Tat bekannt sein müssen. Dieses Wissen haben wir in den wenigsten Fällen. Oft wissen wir aber von einer Brisanz, von jemandem, der aggressiv ist. Für solche Fälle hat das BVG gesagt, dass die Polizei hier nicht untätig sein muss. Der Gesetzgeber muss aber regeln, was in solchen Situationen gemacht werden darf. „Drohende Gefahr“ heißt nicht, dass kein Verdacht mehr vorliegen muss. Wir müssen aufgrund von Tatsachen nachweisen, dass erhebliche Angriffe auf Leib, Leben, Gesundheit und persönliche Freiheit zu erwarten sind.
Gibt es Fälle in der Region, bei denen die Einordnung „drohende Gefahr“ der Polizei schon geholfen hat?
Kallert: Gut lösen konnten wir den Fall des islamistischen Gefährders am Untermain. Er hatte Kriegserfahrung, hat bei uns Körperverletzungen begangen, hat Bedienstete des Ausländeramts bedroht, hat Suizid angedroht und zwar schriftlich. Ein typischer Fall von „drohender Gefahr“. Wir wussten nicht, wo und wann etwas passiert, aber in einem solchen Fall müssen wir als Polizei doch handeln. Er hat eine Fußfessel bekommen – auch dieses Mittel wurde schon im August 2017 eingeführt. Inzwischen ist er ausgereist. Ich sage: Die Gefahr wurde hier abgewendet.
Terrorismusabwehr gehört aber nicht zum Alltagsgeschäft eines Polizisten in Unterfranken.
Kallert: Das lässt sich auch auf die einfachen Fälle übertragen. Immer wieder bekommen wir Hinweise von ausländischen Polizeibehörden, dass namentlich bekannte Personengruppen auf dem Weg nach Unterfranken sind, um Einbruchsserien zu begehen. Um die Täter lokalisieren und observieren zu können, brauchen wir eine Befugnis. Ich habe noch keine konkrete Straftat, weiß nicht wann, weiß nicht wo etwas passiert – also keine „konkrete Gefahr“. Durch „drohende Gefahr“ kann ich entsprechende Maßnahmen bei einem Richter beantragen. Der entscheidet dann. Ein anderes Beispiel: In der Region fiel ein älterer Mann auf, der mehrfach Kinder auf einem Spielplatz angesprochen und sie aufgefordert hat, mit ihm nach Hause zu kommen. Eine sexuelle Motivation mussten wir aufgrund seiner Vorstrafen unterstellen. Die Polizei hat ihn aufgefordert, die Kinder in Ruhe zu lassen, er hat aber weiter gemacht. Über die Regelung der „drohenden Gefahr“ können wir jetzt mit richterlicher Erlaubnis vorgehen, eine DNA-Probe nehmen, eine längerfristige Observation anordnen.
Und ohne „drohende Gefahr“?
Wir könnten ihm nicht einmal verbieten, auf Spielplätze zu gehen. Denn auch dazu brauchen wir eine Befugnis. Oder nehmen Sie Fälle von häuslicher Gewalt oder Stalking. Oft hätten wir hier nicht mehr die Möglichkeit entsprechende Maßnahmen zu veranlassen, weil wir nur tätig werden dürften, wenn wir Ort und Zeit einer möglichen Tat kennen. Ich erinnere an das schreckliche Beziehungsdrama vom April 2017 bei Bischbrunn (Lkr. Main-Spessart): Ein 32-Jähriger ersticht seine Ex-Freundin auf der A3 und stürzt sich anschließend selbst von der Haseltalbrücke. Um ein Kontaktverbot und andere Maßnahmen zu ergreifen, benötigen wir eine Befugnis für die „drohende Gefahr“. Denn in vielen derartigen Fällen – so auch in diesem – weiß man eben nicht, wann und wo es zu etwas kommt und damit ist nach aktueller Rechtsprechung eine „konkrete Gefahr“ nicht mehr gegeben.
Neben dem Begriff „drohende Gefahr“ stoßen sich Kritiker auch an der Möglichkeit, einen Verdächtigen länger als früher festzuhalten.
Kallert: Hier wurden Halbwahrheiten verbreitet. Fakt ist: Die Polizei kann auch künftig nur maximal bis zum Ablauf des nächsten Tages jemanden in Gewahrsam nehmen. Jeder, dem die Freiheit entzogen wird, muss unverzüglich und spätestens mit Ablauf des nächsten Tages dem Richter vorgeführt werden. So war es im Bereich der Strafverfolgung auch bei dem mutmaßlichen Vergewaltiger von Aschaffenburg, der nun nach 30 Jahren wegen versuchten Mordes verurteilt wurde. Was sich geändert hat – allerdings auch schon 2017 – ist, dass der Richter nach dem PAG die Möglichkeit hat, eine Gewahrsamnahme zur Gefahrenabwehr auf bis zu drei Monate zu verlängern. Die Polizei muss aber immer Gründe dafür vorlegen.
Wird davon Gebrauch gemacht?
Kallert: Insgesamt gab es in Bayern zwischen dem 1. August 2017 und Mitte Mai 2018 über 8400 Gewahrsamnahmen. Die Maximaldauer von drei Monaten ist bisher nicht in Anspruch genommen worden und nur in vier Fällen lag die Dauer über den schon vorher möglichen zwei Wochen. Die längste Gewahrsamnahme dauerte zwei Monate. Das war der Fall des Gefährders in Aschaffenburg, der zwischenzeitlich ausgereist ist.
Die Kritik am neuen PAG ist dennoch massiv. Überrascht Sie das?
Kallert: Ja. Denn andere Bundesländer müssen ja auch Änderungen vornehmen. Bayern ist nur schneller. Aber vielleicht liegt es auch am Landtagswahlkampf. Ich finde jedenfalls den Verlauf der Diskussion problematisch: Hier werden Ängste geschürt. Immerhin wurde das Märchen, dass Streifenpolizisten jetzt Handgranaten tragen dürfen, inzwischen richtiggestellt.
Gibt es bei den Kritikern ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der Polizei?
Kallert: Nein. Selbst von den Kritikern heißt es, ihre Kritik richte sich nicht gegen die Polizei. Allerdings trifft es mich persönlich, wenn von einem „Polizeistaat“ die Rede ist. Das geht aus meiner Sicht absolut zu weit. Bereits in der Ausbildung hat Verfassungsrecht, das heißt der Schutz und das Verständnis unserer Grundrechte, einen sehr hohen Stellenwert. Außerdem bereiten wir unsere Kollegen seit Jahrzehnten sehr genau darauf vor, was Demokratie bedeutet.
Das neue Polizeiaufgabengesetz (PAG) Die Staatsregierung hat die ohnehin nötige Neuregelung des PAG genutzt, um die Kompetenzen der Polizei teils deutlich zu erweitern. Ein Hauptargument: Man müsse mit Verbrechern mithalten, auch technisch. Kritiker beklagen, dass der Freistaat nun das schärfste Polizeirecht der deutschen Nachkriegsgeschichte habe. Ein zentraler Kritikpunkt ist, ganz grundsätzlich, die Absenkung der Eingriffsschwelle für die Polizei: Sehr viel mehr Befugnisse als bisher können die Beamten künftig nicht erst bei einer „konkreten“, sondern schon bei einer „drohenden“ Gefahr anwenden. Der Begriff der lediglich „drohenden Gefahr“ ist zwar nicht neu, Kritiker verweisen aber darauf, dass der Begriff eigentlich im Zuge der Terrorbekämpfung eingeführt worden sei. Er soll nun aber eben bei nochmals deutlich mehr Polizeibefugnissen als bisher Anwendung finden. Umstritten ist auch die Auswertung von DNA-Spuren schon zu Fahndungszwecken. Das Innenministerium argumentiert, mit einer DNA-Untersuchung von Geschlecht, Augen-, Haut- und Haarfarbe, Alter und Herkunft könne „der Kreis der potenziellen Gefährder eingegrenzt werden“. Die SPD hat Verfassungsklage gegen das Gesetz angekündigt. dpa