Ein Schrei. Von oben. Stefan Hebling schaut auf. Ein Schatten fällt ihm entgegen, ein Mensch. Rasend schnell. Hebling reagiert instinktiv. "Da macht man sich keine Gedanken", sagt der 42-jährige Bauunternehmer. Ein Schritt nach vorne – "da hab ich ihn schon im Arm gehabt".
Sekunden später stehen die beiden Männer nebeneinander auf dem Asphalt. Hebling hat Rückenschmerzen, merkt, "irgendwas ist passiert" und setzt sich. "Er sagte, jetzt hast du aber Glück gehabt, dass ich unter dir war", erinnert sich Hermann-Josef Krebs an jenen Moment im September 2015. Gut drei Meter ist der Zimmerer auf einer Baustelle in Höchberg (Lkr. Würzburg) abgestürzt, rückwärts. Krebs sagt: "Hebling hat mich gerettet".
"Man hilft einem Menschen und ist letztendlich der Dumme."
Stefan Hebling, Bauunternehmer aus Höchberg (Lkr. Würzburg)
Fast viereinhalb Jahre später schüttelt Hebling den Kopf. Ein Retter will er nicht sein. Der 42-Jährige sitzt in seinem Büro im Höchberger Gewerbegebiet, die Buchhaltung muss erledigt werden. Am Regal hängt ein Fußballtrikot mit Unterschriften. Corinthians Sao Paulo, Ronaldos letzter Verein. Hebling hat es aus einem Brasilien-Urlaub mitgebracht. "Mehr als 20 Jahre habe ich Fußball gespielt", sagt er. Bis zu dem Unfall.
Der Höchberger ist gelernter Maurer- und Betonbaumeister, 2008 hat er sich selbstständig gemacht. Als Ein-Mann-Unternehmen übernimmt er Hoch- und Rohbau- sowie Pflasterarbeiten, körperlich anstrengend. Trotzdem gehörte Sport für Hebling zum Alltag. Golf. Laufen. Tennis. Und vor allem Fußball, seine große Leidenschaft. "Teilweise sechs Mal pro Woche stand ich auf dem Platz."

Und heute? Mit seinem Sohn könne er nur noch locker den Ball hin und her schießen, sagt Hebling, wenn überhaupt. Tennis spielen sei oft nur mit Schmerzmitteln möglich, manchmal gar nicht mehr. Rückenschmerzen plagen ihn nach eigenen Angaben seit dem Unfall massiv. Teilweise habe er den Alltag in den vergangenen Jahren nur mit Opiaten aushalten können, an Arbeit auf dem Bau sei oft nicht zu denken gewesen. "Da weiß man als Selbstständiger nicht mehr, was man tun soll. Man hat Angst um die Existenz."
Zimmerermeister Hermann-Josef Krebs rutschte aus und fiel in die Tiefe
Auf dem Tisch vor dem Bauunternehmer liegt ein prall gefüllter Ordner mit Gutachten, Arztbriefen, MRT-Berichten, Schreiben von Versicherungen, Anwälten. "Man hilft einem Menschen und ist letztlich der Dumme", sagt Hebling. "Ich habe den Schaden und keiner fühlt sich verantwortlich."
Rückblick. 8. September 2015. Hebling ist auf der Baustelle der Familie Spielbauer in Höchberg im Einsatz. Eine Wohneinheit für die Tochter soll entstehen, der Rohbau ist fast fertig. Die Mitarbeiter der Zimmerei wuchten bereits die Balken für den Dachstuhl vom Lkw. Hebling läuft kurz vor Feierabend an dem hoch beladenen Laster vorbei. Plötzlich hört er den Schrei von Hermann-Josef Krebs.

Der Zimmerermeister hatte beim Abladen des Holzes geholfen und wollte vom Lkw auf ein Gerüst springen. "Ich bin auf der nassen Fläche ausgerutscht und gefallen", sagt Krebs. "Es ging so schnell."
Der Moment verfolgt Elisabeth Spielbauer heute noch. "Das war ein Schreck, das sehe ich noch immer vor mir. Ich habe gedacht, der Mann ist tot." Die 80-Jährige stand in ihrem Garten, der damals Baustelle war. Spielbauer wollte den Arbeitern eine Brotzeit bringen. Plötzlich sah sie den Zimmerer ausrutschen. "Ich schrie los wie blöd." Vor ihren Augen stürzte Hermann-Josef Krebs nach unten und landete auf Stefan Hebling. "Wenn er den Mann nicht aufgefangen hätte, wäre der querschnittsgelähmt oder sogar tot", ist sich Spielbauer sicher. "Der hat ein Riesenglück gehabt."
"Das war ein Schreck, das sehe ich noch immer vor mir. Ich habe gedacht, der Mann ist tot."
Elisabeth Spielbauer, Bauherrin der Baustelle in Höchberg
Hebling habe es "zusammengestaucht", sagt Spielbauer. Das belaste sie bis heute. "Wenn ich nicht geschrien hätte, hätte er sich vielleicht nicht umgedreht, ihn nicht gefangen und hätte jetzt keine Probleme", sagt die 80-Jährige. Aber, dann hätte es Hermann-Josef Krebs erwischt. "Meine Tochter sagt immer, warum musste sowas bei uns auf dem Bau passieren?"
Tatsächlich ist der Sturz an sich kein Einzelfall. Die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) verzeichnete im Jahr 2018 bundesweit 105 687 meldepflichtige Arbeitsunfälle – 88 endeten tödlich. Die häufigste Ursache für tödliche Unglücke seien dabei Abstürze, so die BG Bau.

In Höchberg überstand Zimmerermeister Hermann-Josef Krebs seinen Sturz ohne Verletzungen. Dank Hebling. "Er hat mich vor Schlimmerem bewahrt." Viereinhalb Jahre später habe er den Unfall längst verarbeitet: "Ich habe kein Trauma. Aber auf feuchte Flächen springe ich nicht mehr".
Stefan Hebling hingegen kämpft mit den Schmerzen im Rücken, die – nach seinen Aussagen – erst nach dem Unfall auftraten. Als Krebs in seinen Armen landete, habe er ein "Knacken gespürt". Einordnen können habe er den Schmerz zunächst nicht, sagt er. Deshalb setzte er sich hinters Steuer, wollte noch Abfall entsorgen. Eine Dreiviertelstunde später sei sein Brustkorb angeschwollen – "ich habe gemerkt, irgendwas passt gar nicht".
Stefan Hebling klagt unter anderem gegen seine Krankenkasse
Zwei Tage lang sei er im Krankenhaus durchgecheckt worden. "Es hieß dann, außer Prellungen und einer Entzündung habe ich nichts dramatisches", sagt Hebling. Allerdings seien die Schmerzen trotz Krankschreibung und Reha nicht besser geworden, im Gegenteil.
Für Hebling ist klar: Auslöser war der Unfall. Nachweisen kann er das nicht. Zwar habe ein MRT später ein kaputtes Bandscheibensegment gezeigt und ein Gutachten stellte ein Wirbelgleiten fest. Dass es nicht angeboren war, konnte der Höchberger mit einem älteren Befund belegen. Ob die Schäden aber durch den Unfall ausgelöst wurden, ist schwer zu beweisen. "Wenn man ein MRT einen Tag vor dem Unfall gemacht hätte und eines zwei Tage danach, dann könnte man sagen, davon ist es."
Hebling zuckt frustriert die Schultern. "Ich will endlich ein Ende haben", sagt der Unternehmer. In den letzten Wochen seien die Schmerzen zwar dank eines speziellen Rückentrainings "so gut wie nie". Sogar einen ersten Rohbau seit dem Unfall betreue er inzwischen. "Was aber ist in fünf Jahren? Was, wenn die Schmerzen schlimmer werden und ich nicht mehr arbeiten kann?"
Ihm gehe es nicht darum, Geld zu machen, sagt der Höchberger. Sondern schlicht darum, seinen Verdienstausfall auszugleichen. Und darum, den "Schaden durch den Unfall feststellen zu lassen". Ob er damit Erfolg hat, muss wohl vor Gericht entschieden werden. Hebling klagt unter anderem gegen seine Krankenkasse und die Haftpflichtversicherung von Hermann-Josef Krebs.

Hebling gegen Krebs, heißt es in den Akten. Retter gegen Geretteten? Eine gute Tat, die man im Nachhinein bereut? Nein, sagt Hebling. Sein Ärger richte sich nicht gegen den Zimmerer sondern nur gegen die Versicherungen. "So etwas bereut man nicht. Wenn man die Möglichkeit hat, Menschen zu helfen, versucht man auch, das zu tun."