Über 300 Frauen in der Bundesrepublik wurden vergangenes Jahr von ihren Männern getötet. Insofern, sagt die Geschäftsführerin beim Verein Wildwasser, Antje Sinn, wirke der Begriff der „Häuslichen Gewalt“ geradezu verniedlichend. „Oft steckt dahinter extreme Gewalt, wobei Kinder oft Zeugen werden.“ Der Verein Wildwasser, der Mädchen und Frauen berät, die Opfer von Gewalt wurden, hat sich nicht nur direkte Hilfe zur Aufgabe gemacht, sondern geht auch an die Öffentlichkeit. In der Gesellschaft soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, welche sexuelle Gewalt geschieht und wie wichtig es ist, sich möglichst rasch Hilfe zu holen – besser noch: vorzusorgen, also Wissen zu erwerben, um Gefahren zu erkennen und möglichst zu vermeiden.
Mit 16 Suizidversuch
In ihrer Bilanz für das Jahr 2016 sprechen die Beraterinnen von 360 Menschen, für die Wildwasser eine erste Anlaufstelle war. Mit einem Beispiel führen sie ins Thema ein. Eine Betroffene hat ihre Erfahrungen aufgeschrieben: „Sexuell missbraucht wurde ich, seit ich denken kann, von meinem eigenen ,Vater'. Mein Leben ist damals völlig aus der Bahn geraten. Der Missbrauch ging bis zu meinem 16. Lebensjahr, denn da kam mein erster Suizidversuch. Nach langen Psychiatrieaufenthalten kam dann die Rettung. Ich kam mit 16 von zu Hause weg in ein therapeutisches Kinderheim.
Schon mit zwölf Jahren fing ich an, mit selbst zu verletzen und rutschte dann auch in eine Essstörung...“ Die junge Frau, die das zu Papier gebracht hat, wollt „nur noch weg“ und landete in Würzburg, „da begann dann auch der Kontakt zu Wildwasser. Ich fühlte mich alleine, depressiv und einfach hoffnungslos. Durch Wildwasser kam dann die Wende.“
Vom Opfer zum Gewalttäter
Und noch ein völlig untypisches Beispiel nennen Sozialpädagogin Susanne Porzelt und Antje Sinn: Andreas Marquardt, dessen Schicksal im Film „Härte“ beim Kinderschutztag im früheren Kino Central gezeigt wurde. Marquardt wurde als Kind vom Vater misshandelt und von seiner Mutter jahrelang sexuell missbraucht. Er war beim Film anwesend und schilderte seine Entwicklung als Zuhälter und Gewalttäter bis hin zur eigenen Therapie und dem Weg aus der Gewaltspirale. Dieser begann im Knast, wo er nach einem Therapeuten winselte.
Wildwasser war Anlaufstelle zu Themen wie Beratung, Krisenintervention, Therapie und Selbsthilfe, Verdachtsabklärung, rechtliche und allgemeine Informationen. In 40 Prozent der Fälle meldeten sich Betroffene selbst. Ein Drittel der Anfragen kam von Fachleuten, 17 Prozent waren Angehörige, darunter Elternteile, Partner oder Freunde. Die Fachkräfte kamen aus dem schulischen Bereich, aus Fördereinrichtungen, aus Heimen und Wohneinrichtungen und aus Kliniken.
Beschränkte Möglichkeiten in Würzburg
„Aus den 360 Erstanfragen berieten wir in 283 Fällen die Ratsuchenden einmalig oder längerfristig. Davon waren 49 Weiterführungen aus dem Jahr 2015“, so die Beraterinnen. Ihre weitere Bilanz: „Über 40 Prozent der Fälle beziehen sich auf sexuellen Missbrauch. In 116 Fällen wurde davon berichtet. In weiteren 26 Fällen wurde sexueller Missbrauch vermutet“. Auch hatte Wildwasser Kontakt zu acht Zeugen von Gewalt.
Der Verein Wildwasser – Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen – hat auch immer wieder mit Jungs oder jungen Männern zu tun. Erwachsene Männer werden an andere Beratungsstellen, oft in anderen Städten verwiesen, weil die Möglichkeiten in Würzburg beschränkt sind.
„Um so näher der Täter,“ sagt Antje Sinn, „desto weniger wird angezeigt.“ Beispiel: Ein Onkel hat sexuell belästigt. Dieser wird bei der nächsten großen Familienfeier wieder dabei sein. Das Opfer muss lernen, den größtmöglichen eigenen Schutz zu erarbeiten: zum Beispiel nur kurz bei der Feier dabei sein, sich zu einer Freundin in der Nähe zurückziehen, oder – falls möglich – gar nicht mit zur Feier kommen.
Rechtsanspruch auf die Prozessbegleitung
Die Zahl der Anfragen schwankt etwas, bleibt durchschnittlich aber in den vergangenen Jahren gleich und erhöht sich, wenn Missbrauchsfälle wie etwa in der Kirche öffentlich werden. Seit 1. Januar 2017 besteht bundesweit ein Rechtsanspruch auf die Prozessbegleitung im Strafverfahren. Die Wildwasser-Mitarbeiterinnen Antje Sinn und Nicole Drogla wurden dafür ausgebildet, als zwei von 22 Prozessbegleiterinnen in Bayern. Insgesamt sechs Mitarbeiterinnen arbeiten für Wildwasser.
Wildwasser startete außerdem ein Flüchtlingsprojekt, in dessen Rahmen die Wildwasserfrauen sich um Jungen und Mädchen kümmern, die im Krieg oder auf der Flucht sexuelle Gewalt erlitten haben. Finanziell werden sie darin von der World Childhood Foundation unterstützt.
Wer diese Arbeit finanziert
Stadt (30 Prozent) und Landkreis Würzburg (17 Prozent) finanzieren die Wildwasser-Arbeit mit, ferner die Landkreise Main-Spessart, Kitzingen, Main-Tauber, Gelder kommen teils vom Staatsministerium, auch durch Zuweisungen von Bußgeldern von Gerichten, von Stiftungen, Sponsoren und Spendern, aber auch aus eigenen Veranstaltungen (insgesamt 25 Prozent) wie dem Entenrennen (sechs Prozent).