Ilkay Gündogan: Der Fußball-Nationalspieler spricht im Interview über die Flüchtlings-Debatte, den großen Mut seines türkischen Opas, Wahnsinns-Transfersummen und das wertvolle Potenzial der Einwanderer: "Ohne sie wären wir heute nicht Weltmeister." Hinter Ilkay Gündogan (24) liegt eine längere Leidensgeschichte, nachdem im August 2013 bei ihm ein Nervwurzelreizsyndrom diagnostiziert worden war. Nach mehreren Rückschlägen kehrte der Mittelfeldspieler von Borussia Dortmund erst nach über 400 Tagen wieder auf den Fußballplatz zurück, seit März diesen Jahres gehört er auch wieder zum Kreis des Nationalteams. Im Hotel „Villa Kennedy“, dem Mannschaftsquartier der DFB-Elf in der Frankfurt vor dem EM-Qualifikationsspiel am Freitag gegen Polen,, nimmt sich Gündogan Zeit für das Interview mit dieser Zeitung und spricht auch über Sprache und Fußball als Integrationshilfe, den neuen Spaß bei der Borussia und die Wahnsinnssummen auf dem Transfermarkt: „Wer ist 70 Millionen Euro wert? Vielleicht ein Lionel Messi.“
- Lesen Sie auch unseren Leitartikel: Ist Deutschland hell oder dunkel?
Frage: Herr Gündogan, das beherrschende Thema in Deutschland ist die Debatte über Flüchtlinge. Sie selbst haben einen Migrationshintergrund, Ihr Opa kam einst aus der Türkei ins Ruhrgebiet und arbeitete dort als Bergmann. Was fühlen Sie, wenn Sie hören, dass über 70 Menschen auf der Suche nach einem besseren, einem sichereren Leben eingepfercht in einem Lkw zu Tode kommen?
Ilkay Gündogan: Das ist unfassbar. Unfassbar traurig auch. Das geht an einem nicht spurlos vorbei. Wenn man sich das vorstellt: 70 Menschen, die in einem Lkw ersticken – das ist so brutal. Ich hoffe, dass die Leute, die dafür verantwortlich waren, gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden.
Sie haben türkische Wurzeln. Was bedeutet Deutschland für Sie?
Gündogan: Deutschland ist mein Zuhause. Ich bin hier geboren worden, ich bin hier aufgewachsen, ich habe immer hier gelebt. Es ist der Ort, an dem ich mich wohlfühle und von dem ich mir vorstellen kann, zu bleiben bis an mein Lebensende. Natürlich spüre ich auch eine große Verbundenheit zur Türkei und bin immer wieder gerne dort. Aber Deutschland ist meine Heimat, und ich bin dankbar, dass ich hier aufwachsen durfte. Wenn mein Opa damals nicht nach Deutschland gekommen wäre, wüsste ich nicht, wie die Geschichte weitergegangen wäre. Hätte es mich überhaupt gegeben? Wenn ja, was wäre aus mir geworden? Dass ich heute diese Möglichkeiten habe, die mir in Deutschland offen stehen, dafür bin ich sehr, sehr dankbar.
Haben Sie mit Ihrem Opa je über seine Beweggründe geredet, seine Heimat zu verlassen und neu anzufangen?
Gündogan: Natürlich. So ein Entschluss ist nicht einfach, man lässt ja etwas zurück, muss loslassen können, und das ist brutal schwierig. Alles stehen und liegen zu lassen und nur das nötigste Hab und Gut mitzunehmen, um ein neues Leben anzufangen, das ist ja keine Selbstverständlichkeit. Dafür braucht man sehr viel Mut und auch sehr viel Ehrgeiz. Mein Opa hat es damals gemacht und dann nach und nach meine Oma und meinen Vater und seinen Bruder nachgeholt. Es war für alle brutal schwierig. Du kommst in ein fremdes Land, kennst dich nicht aus, kennst vor allem die Menschen nicht, mit denen Du zu tun hast. Und was das Schlimmste ist: Du kannst nicht kommunizieren, weil du kein Wort Deutsch kannst. Das sind keine günstigen Voraussetzungen, um ein vernünftiges Leben zu führen. Alles musste sich sehr hart erarbeitet werden.
Sie hatten da schon bessere Voraussetzungen?
Gündogan: Richtig, ich bin anders aufgewachsen als mein Opa und meine Eltern. Ich hatte in der Schule Englisch und Französisch, wurde ein bisschen weltoffener erzogen. Aber trotzdem stelle ich mir manchmal die Frage, wie es mir erginge, müsste ich in einem fremden Land ohne Sprachkenntnisse neu anfangen und es hieße: ,So, jetzt mach´ mal!´ Das stelle ich mir extrem schwierig vor. Sicher, bei meinem Opa war es eine andere Zeit, aber ich ziehe wirklich den Hut vor dem Mut, den er hatte.
Beim Club reiften Sie zum Bundesligaspieler, und während dieser Zeit haben Sie an der Bertold-Brecht-Schule in Nürnberg auch Ihr Abitur gemacht. Wie wichtig sind Sprache und Bildung für die Integration?
Gündogan: Enorm wichtig. Wenn man in ein fremdes Land kommt, in dem man sich auch anpassen muss, ist Sprache zunächst das Wichtigste. Was soll ich machen, wenn ich nicht die Sprache der Menschen spreche? Sprache ist die Grundvoraussetzung, um sich stückchenweise hier ein Leben aufzubauen. Das ist in einem fortgeschrittenen Alter sicher etwas schwieriger. Wenn du jung bist, dann kommst du in den Kindergarten oder wirst eingeschult und lernst dabei die Sprache fast automatisch. Wenn du aber schon 30, 40 bist, dann ist Deutsch zu lernen nicht deine Hauptaufgabe, sondern arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen, um dich und die Familie zu ernähren. Deshalb habe ich eine große Bewunderung für Menschen, die den Mut haben und sich ein neues Leben aufbauen.
Sehen Sie sich als Nationalspieler und gerade auch mit Ihrem Werdegang als Vorbild?
Gündogan: Ja, definitiv. Ich freue mich auch darüber. Ich glaube, als Fußballer oder Schauspieler oder eine andere Person, die in der Öffentlichkeit steht, ist man im Fokus der Masse. Leute beobachten einen: Was macht er? Kann ich mir etwas abschauen? Dieser Verantwortung muss man sich bewusst sein und auch dementsprechend handeln.
Fans blicken zu Ihnen auf, dem Deutsch-Türken, der so toll Fußball spielt. Und gleichzeitig hetzen Neonazis in Heidenau und anderswo in Deutschland gegen Flüchtlinge. Wie nehmen Sie solche Nachrichten auf?
Gündogan: Sie machen mich wütend, aber noch mehr bin ich traurig über diese Auswüchse. Manchmal habe ich das Gefühl, uns geht es einfach zu gut. Wir wissen nicht zu schätzen, was wir eigentlich in Deutschland haben. Wir können nicht mehr reflektieren, können uns nicht mehr in andere Menschen reinversetzen, denen es nicht so gut geht. Das ist einfach schade. Schauen Sie sich unsere Nationalmannschaft doch einmal an: Da kicken viele Spieler, deren Eltern aus einem anderen Land hierher gekommen sind. Wenn sie das damals nicht gemacht hätten, dann gäbe es diese Nationalmannschaft nicht. Dann wären wir nicht Weltmeister.
Haben Sie je Rassismus am eigenen Leib erfahren in Deutschland?
Gündogan: Aufgrund des Fußballs hatte ich, ehrlich gesagt, nie Probleme in diese Richtung, sondern spürte immer eine große Akzeptanz. Das ist das Schöne am Sport: Auf dem Platz zählt einfach nur die Leistung, und wenn du die bringst, dann wirst du auch akzeptiert, egal aus welchem Land du kommst.
Haben Sie eine Erwartung an die deutsche Politik?
Gündogan: Was erwarte ich? Ich glaube, es ist nicht meine Aufgabe, hier Forderungen an die Politik zu stellen. Gottseidank gibt es Menschen, die sich der politischen Verantwortung stellen und die tagtäglich mit diesem schwierigen Thema umgehen. Ich habe Vertrauen darin, dass die Politiker die richtigen Entscheidungen treffen werden, und ich hoffe einfach, dass jeder Mensch, egal welcher Herkunft, hier eine faire Chance bekommt.
Die Überleitung zum Sportlichen fällt nicht ganz einfach, aber auch Sie haben bei Borussia Dortmund wieder Ihre Chance bekommen. Ihre Verletzung, aber auch die Seuchensaison 2014/15 scheinen weit weg. Plötzlich ist der BVB Tabellenführer. Ist doch alles nur eine Kopfsache?
Gündogan: Der Kopf spielt eine große Rolle, klar. Wenn du mehrere Spiele nicht gewinnst, geht irgendwann das Selbstvertrauen verloren. Dann fehlt diese Selbstverständlichkeit, einfach auf den Platz zu gehen und das zu machen, was man kann. Vergangene Saison kam einfach alles zusammen. Mit der Sommerpause wurde alles auf null gestellt. Es kam ein neues Trainerteam, das neuen Input brachte. Jeder musste sich neu beweisen. Das kam allen zugute und spiegelt sich im Moment auf dem Platz wieder. Der Spaß ist zurück.
Was macht Thomas Tuchel anders als Jürgen Klopp?
Gündogan: Wenn man anfängt Vergleiche zu ziehen, wird man niemandem gerecht. Fakt ist, dass Jürgen Klopp über Jahre hinweg beim BVB sensationelle Arbeit geleistet hat. Eine katastrophale Hinrunde macht nicht die anderen sechseinhalb Jahre schlecht. Man muss das Gesamte sehen. Klopp hat den Verein wieder zurückgebracht in die deutsche Elite. Mit Thomas Tuchel schreiben wir ein neues Kapitel, das sich gerade beginnt zu entwickeln. Alles steht auf Anfang, und auch wenn der Start sehr positiv war, wird es auch Rückschläge geben. Aber bisher ist das eine tolle Verbindung, der BVB hat den richtigen Trainer ausgewählt.
Im März hat Sie Bundestrainer Joachim Löw nach Ihrer schweren Verletzung wieder ins Nationalteam zurückgeholt. Was war das für ein Gefühl?
Gündogan: Ein sehr schönes. Es tut gut, wieder dabei zu sein. Die Verletzung habe ich abgehakt, denke nicht mehr daran. Ich fühle mich gut.
Ist es trotzdem nicht fast verwunderlich, dass ein Mann mit Ihren fußballerischen Fähigkeiten erst elf Länderspiele auf dem Konto hat?
Gündogan: Es wären ohne die Verletzung wahrscheinlich mehr. Aber es ist nicht die Quantität der Spiele entscheidend, sondern die Leistung, die du bringst, wenn du auf dem Platz stehst. Und da haue ich mich immer voll rein.
Nun steht das EM-Qualifikationsspiel gegen Polen an. Dort treffen Sie auf Ihren Kumpel Jakub Blaszczykowski, der auf Leihbasis vom BVB für ein Jahr zum AC Florenz gewechselt ist.
Gündogan: Ja, das wird lustig. Zu Kuba habe ich ein sehr gutes Verhältnis, aber auch zu Lukasz Piszczek und Robert Lewandowski. Wir haben uns in Dortmund alle gut verstanden, aber vor allem Kuba war immer eine Stimmungskanone. Ich freue mich, ihn zu sehen. Ich wünsche ihm, dass er gesund bleibt und zu seiner alten Stärke findet.
In der Europa League spielt der BVB nun gegen Qäbälä und Krasnodar statt gegen Barcelona und Manchester in der Champions League. Gewöhnungsbedürftig?
Gündogan: Ja, von den Namen her ist es erstmal etwas anderes, auch aufgrund der Tatsache, dass man die gegnerischen Spieler und Trainer kaum kennt. Das ist in der Champions League anders. Aber es ist trotzdem ein attraktiver Wettbewerb und es liegt an uns, die Spitze der Europa League herauszufordern. Wir müssen den Wettbewerb so annehmen als wären es Spiele gegen namhafte Gegner. Vielleicht schaffen wir den Weg bis ins Finale.
Vor wenigen Tagen endete die Transferfrist. Haben Sie die teils verrückten Rochaden auch verfolgt?
Gündogan: Am Ende ist so viel passiert, dass man den Überblick verlieren konnte. Ist schon Wahnsinn, was da mittlerweile für Summen kursieren. Dagegen kann man einfach nichts tun. Das ist die Art und Weise, wie sich der Fußball entwickelt.
Machen Sie sich Gedanken angesichts der horrenden Summen im Vergleich zu dem, was ein normaler Arbeiter verdient? Ist das Marktwirtschaft oder langsam absurd?
Gündogan: Die Frage ist: Was ist ein Spieler und damit ein Mensch wert? Wenn es irgendwann bei 70, 80 Millionen Euro nicht mehr endet, frage ich mich ernsthaft, wer das noch wert sein soll. Vielleicht ein Lionel Messi, aber dann gibt es nicht mehr viele. Klar macht man sich Gedanken über die Transfers, aber letztlich habe ich als Spieler keinen Einfluss. Ich versuche, mein eigenes Ding zu machen. Es gibt andere Leute, die da in der Verantwortung stehen. Aber ein Nachlassen der Entwicklung sehe ich erst mal nicht.
Man sollte darauf hinweisen, dass es nicht der Mensch ist, für den so viel bezahlt wird, sondern sich der Wert an dessen fußballerischen Künsten bemisst.
Gündogan: Ja, klar. Das ist so. Und trotzdem ist es ein Mensch, der da transferiert wird und der dann damit klarkommen muss, dass er an diesen Summen gemessen wird.
Ilkay Gündogan
In Gelsenkirchen wurde Ilkay Gündogan geboren, und dort begann auch seine Fußballlaufbahn. Sein Opa war aus Balikesir in der Türkei in den Ruhrpott ausgewandert, wo er eine Arbeit als Bergmann fand. Später holte er die Familie nach. Vom VfL Bochum wechselte Ilkay Gündogan 2009 zum 1. FC Nürnberg, wo er zum Bundesligaspieler reifte. Seit 2012 spielt der Mittelfeldstratege für Borussia Dortmund. In der Nationalelf absolvierte der 24-Jährige bislang elf Partien. 2012 gehörte er zum EM-Kader, machte aber keine Partie. Eine Verletzung brachte ihn um die Teilnahme bei der WM 2014. Ilkay Gündogan ist liiert mit der Schauspielerin Sila Sahin.