Einmal in der Woche geht Karina Schönmaier zusammen mit ihren Trainingskolleginnen auf eine Traumreise. Dann machen es sich die Turnerinnen aus dem Chemnitzer Leistungszentrum mit geschlossenen Augen in der Halle gemütlich und folgen in Gedanken den Wegen, die ihnen ihre Trainer Tatjana Bachmayer und Anatol Ashurkov mit Worten vorgeben. Das Ritual dient der mentalen Gesundheit, es soll Druck und mögliche Ängste abbauen.
Schönmaier begrüßt diese Auszeit von den intensiven Übungseinheiten. «Wir reden darüber viel», sagt sie. Doch auch im Alltag fällt es der 20-Jährigen seit einiger Zeit schwer, das als Realität zu verstehen, was sie erlebt. Als Doppel-Europameisterin ist die gebürtige Bremerin zu den Weltmeisterschaften in Jakarta angereist, die an diesem Sonntag beginnen. Bei den kontinentalen Titelkämpfen Ende Mai in Leipzig hatte sie nach Silber mit der Mannschaft auch noch Gold im neuen Mixed-Wettbewerb und am Sprung gewonnen. «Ich lebe meinen Traum», sagt die deutsche Mehrkampfmeisterin.
Überraschungselement für die WM
Drei Jahre nachdem sie bei der WM in Liverpool debütierte und auf Anhieb ins Finale der 24 besten Allrounderinnen einzog, zählt sie an ihrem Paradegerät zu den Favoritinnen. «Sie kann eine Medaille holen», sagt Ashurkov, der seine Sportlerin auch in Indonesien betreut. Für dieses Ziel haben die beiden ein neues, noch schwierigeres Element am Sprungtisch vorbereitet. «Das ist eine Überraschung», sagt Schönmaier.
In dem Trio, das der Deutsche Turner-Bund (DTB) im nacholympischen Jahr zu der ohne Team-Entscheidung ausgetragenen WM schickt, verfügt sie über die meiste Erfahrung. Neben der Mannheimerin Silja Stöhr geht auch die erst 15 Jahre junge Jesenia Schäfer in Südostasien an die Geräte. Sie zählt ebenfalls zu der starken Chemnitzer Trainingsgruppe. «Wir pushen uns gegenseitig», erzählt Schönmaier. «Und wir haben die besten Trainer der Welt. Ohne die würde ich das alles nicht schaffen.»
Die Rückkehr von Pauline Schäfer-Betz
Während an den Stützpunkten in Stuttgart und Mannheim nach Vorwürfen mehrerer Turnerinnen wegen körperlichen und psychischen Missbrauchs in den vergangenen zwölf Monaten drei Trainerinnen und ein Trainer suspendiert wurden und personelle Lücken aufklafften, hat sich Chemnitz zum Vorzeigestandort gemausert. Auch die ehemalige Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz hat sich vor eineinhalb Monaten der Riege von Ashurkov und Bachmayer angeschlossen.
Im November 2020 hatte die heute 28-Jährige, die sich nach einer Hüftoperation derzeit noch im Aufbautraining befindet, selbst eine erste Welle von Anschuldigungen ins Rollen gebracht, als sie ihre frühere Chemnitzer Trainerin Gabriele Frehse öffentlich wegen Machtmissbrauchs und Schikanen anprangerte. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen später ein. Frehse hatte die Vorwürfe stets bestritten und sich auch erfolgreich juristisch gegen eine Kündigung durch den Olympiastützpunkt gewehrt. Seit 2023 arbeitet sie mit dem Nationalteam Österreichs.
Ashurkov sprang 2021 in Chemnitz in die Bresche. «Tadi und Anatol wollen, dass ihre Turnerinnen sich proaktiv miteinbringen», erklärt Schäfer-Betz. «Nur so können sich Athletinnen entwickeln.» Talent Jesenia Schäfer ergänzt: «Man kann immer mit den beiden reden, auch wenn einem alles zu viel wird.» Dann werde gemeinsam nach Lösungen gesucht. «Die Trainer zerbrechen sich den Kopf darüber, wie sie uns helfen können», sagt Schönmaier. Das gelte nicht nur für den Sport, sondern auch im Privaten.
Umgang ist «ehrlich, direkt und offen»
«Es ist wichtig, dass die Turnerinnen Spaß an dem haben, was sie jeden Tag machen», sagt Bachmayer, die bis 2024 in Karlsruhe tätig war. Deshalb kommunizierten sie und der frühere belarussische Turner Ashurkov intensiv mit den Athletinnen und investierten auch viel in «mentale Arbeit». Jeden Mittwoch würden die Themen, die beide Seiten beschäftigten, miteinander besprochen. «Ehrlich, direkt und offen», sagt Bachmayer. «Manchmal tut das weh.» Nicht nur den Turnerinnen werde dabei ein Feedback gegeben, «sie dürfen auch unsere Arbeit bewerten». Aus diesem Miteinander sei sehr viel Vertrauen entstanden.
Als Schönmaier vor drei Jahren nach Sachsen kam, weil die Bedingungen in ihrer norddeutschen Heimat nicht gut genug für ihr Niveau waren, hatte sie sich über den vorherigen Skandal dort keine Gedanken gemacht. «Ich kannte Anatol von Lehrgängen aus Frankfurt, und das hat bei mir den Ausschlag gegeben, es dort mal zu probieren», sagt sie. Dass beide Russisch sprechen, hilft. «Ich habe mich von Anfang bei ihm wohlgefühlt», sagt Schönmaier. Die Situation habe sich durch Bachmayer noch verbessert. Was vorher war, spielt keine Rolle für die Aufsteigerin: «Das ist Vergangenheit, und wir machen jetzt die Zukunft.»
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