Mensch werden, das war für den Schweizer Menschenkenner Carl Gustav Jung (1875 bis 1961) kein einmaliger Vorgang. Vielmehr geschieht das in jeder Altersstufe, drei- bis viermal im Leben. Als habe er den Jugendwahn unseres Zeitalters vorausgesehen, mokiert Jung sich über Ältere, die sich weigern, ihr Altern anzunehmen, aber auch über Junge, die das Altern verdrängen. Jede Altersstufe gleicht einer Geburt, das gehört in die Lebensplanung. Bloß nicht zur „Erinnerungssalzsäule erstarren“, so Jungs wichtigste Warnung.
An nichts wächst und reift der Mensch mehr als an seinen Altersprozessen. Wer sich gegen sie wehrt, wird neurotisch. C. G. Jung, neben Sigmund Freud der wichtigste Psychiater, findet klare Worte. „Ein Junger, der nicht kämpft und siegt, hat das Beste seiner Jugend verpasst, und ein Alter, welcher auf das Geheimnis der Bäche, die von Gipfeln in Täler rauschen, nicht zu lauschen versteht, ist sinnlos, eine geistige Mumie, welche nichts ist als erstarrte Vergangenheit.“ Das sei „pervers“ und „stillos“.
Verena Kast und Ingrid Riedel haben die wichtigsten Themen von C. G. Jung in einem Band vereint. Ein schwieriges Unterfangen, denn der produktive Wissenschaftler hinterließ ein Werk mit 20 Bänden. In Übereinstimmung mit Kollegen des C.-G.-Jung-Instituts in Zürich wurden jene Texte berücksichtigt, die „gut erschließbar“ sind und zugleich „unabdingbar für das Verständnis der Jung'schen Psychologie“. Der einstige Mitarbeiter Freuds hatte sich mit seinem Meister überworfen, als er 1912 dessen Libidotheorie kritisierte. Jung entwickelte seine eigene Lehre, die von Komplexen ausgeht, die ins Unbewusste abgedrängt werden, was zu Krankheiten führen kann. Wer einen Mutterkomplex hat, denkt bei allem, was er tut, an seine Mutter – das kann eine fatale Gefangenschaft sein.
Dennoch: Probleme sind nützlich. „Das seelische Leben des Kulturmenschen . . . ist voll Problematik, ja es lässt sich ohne Problematik gar nicht denken“, schreibt er. „Unsere seelischen Vorgänge sind zum großen Teil Überlegungen, Zweifel, Experimente . . . Die Existenz der Problematik verdanken wir dem Wachstum des Bewusstseins. So bedeutet jedes Problem die Möglichkeit zu einer Erweiterung des Bewusstseins, zugleich aber auch die Nötigung, von aller unbewussten Kindhaftigkeit und Naturhaftigkeit Abschied zu nehmen.“
Für C. G. Jung ist Kultur Problembewältigung. „Die großen Lebensprobleme sind nie auf immer gelöst. Sind sie es einmal anscheinend, so ist es immer ein Verlust. Ihr Sinn und Zweck scheint nicht in ihrer Lösung zu liegen, sondern darin, dass wir unablässig an ihnen arbeiten. Das allein bewahrt uns vor Verdummung und Versteinerung.“
Die Psychologie der Lebensstadien ist deshalb so wichtig, weil sie jede Entwicklung im menschlichen Leben vorbereitet. Laut Jung ist das ein energetischer Prozess für ein, wie er formuliert, „zielgerichtetes Leben“. Man lebt richtig, wenn man sich richtig auf den Tod vorbereitet. Was viele lieber ausblenden, ist eine biologische Prämisse, die sich nicht außer Kraft setzen lässt. Doch viele Ältere tun das. „Darum verholzen so viele Menschen im reifen Alter.“
Wer nicht akzeptiert, dass er endlich ist, tut sich das Schlimmste an, es kommt zu einer „Verengerung des Lebens“. Man stößt nicht durch die vielen Schichten des Unbewussten zu den Archetypen, die unser kollektives Unterbewusstes bestimmen – kollektiv, weil alle Menschen in allen Kulturen diese Bilder und Empfindungen kennen. Wer sie zulässt, gelangt zu einer „biologischen Freiheit“, die auch seelisch beglückend ist. Es ist ein Leben mit der Natur, das nicht nur gegen das Ungeheuerliche kämpft. Ein erfülltes Leben mit geglücktem Finale.
C. G. Jung: „Ausgewählte Schriften.“ Herausgegeben von Verena Kast und Ingrid Riedel. Patmos, 313 S., 24,90 Euro.