Mein lieber Freund“, schreibt Thomas Mann 1912 in vorsichtiger Sprache an seinen Verleger Samuel Fischer. „Ich schicke Ihnen eine Geschichte, die etwas seltsam ist. Es ist die homosexuelle Geschichte eines alternden Künstlers, der sich in einen Halbwüchsigen verliebt. Sie werden sagen: Oh! Oh! Bitte lesen Sie es, denn es ist eine saubere Sache.“
Im Herbst 1913 erschien die Novelle – Literatur, wie sie der Verfasser der „Buddenbrooks“ nie wieder schrieb. In keinem anderen Buch hat er so viel von sich offenbart, musste es aber verdeckt tun. Homosexualität war im Deutschen Reich nicht nur verpönt, sondern stand auch unter Strafe. Deshalb, in vorauseilendem Gehorsam, dieses „es ist eine saubere Sache“.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbringt der Lübecker Schriftsteller mehrere Sommer lang seinen Urlaub im Grandhotel Des Bains auf dem Lido von Venedig. Dass der verheiratete Familienvater schwul war, soll seiner Frau Katia erst dort bewusst geworden sein. Doch die sexuelle Pein ihres Mannes kam nicht zum Durchbruch, geschweige zur Befriedigung. Die Sublimation, wie Sigmund Freud das genannt hätte, machte daraus Ästhetik. „Es ist sicher gut, dass die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn das Geheimnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floss, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkung des Vortrefflichen aufheben“, schrieb Mann. Seiner Frau gegenüber gelobte er „strenges Eheglück“ und war von „tiefer Dankbarkeit“ für ihr Verständnis erfüllt.
In der Novelle geht es um den 52 Jahre alten Gustav von Aschenbach, der im schwülen Klima von Venedig die Anwesenheit des polnischen Jungen Tadzio „von vielleicht vierzehn Jahren“ mit langem Lockenhaar, der mit seiner Familie im Hotel logiert, wahrnimmt. Für den Künstler ist er Sinnbild von Jugend und Schönheit, die ihn an seine Vergänglichkeit erinnert. Er rutscht in eine tiefe Krise, fühlt sein angegriffenes Herz. „Was sollte er hier? Er war fehlgegangen“, heißt es in der Novelle. Doch von der Leidenschaft der Beobachtung des hübschen Knaben kann er nicht lassen. Sie sprechen nie miteinander, alles bleibt im Bereich der Vorstellung. Da sind zwei „Menschen, die sich nur mit den Augen kennen – Menschen, die täglich, ja stündlich einander begegnen, sich beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit grußlos und wortlos aufrechtzuerhalten durch Sittenzwang genötigt sind“, heißt es. Einmal will Aschenbach den Jungen ansprechen, da merkt er, dass sein Herz „wie ein Hammer schlägt, dass er, so knapp bei Atem, nur gepresst und bebend wird sprechen können . . . Allein es war wohl an dem, dass der Alternde die Ernüchterung nicht wollte, dass der Rausch ihm zu teuer war.“
Thomas Mann wird mit dem Buch zum Avantgardisten. Homosexualität war bis dahin kein Thema der Literatur, auch er darf es nur vergeistigt aufarbeiten. Dass der Mensch triebgesteuert ist, dass er eine überbordende Sinnlichkeit besitzt, das kann er nur „zugleich kälter und leidenschaftlicher“ betrachten. Auch 100 Jahre später würde man solche erotisch-sexuelle Besessenheit für Halbwüchsige als Pädophilie einstufen. Doch heute gibt es mehr Akzeptanz dafür.
Das Erstaunliche an der Novelle ist, dass das Beobachtete, Erlebte und Erlittene, die „Tragödie einer Entwürdigung“, für Mann Antrieb für ein radikales Stück Literatur war.
Thomas Mann
Paul Thomas Mann, geboren am 6. Juni 1875 in Lübeck, gestorben am 12. August 1955 in Zürich, war ein deutscher Schriftsteller, der unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1933 in die Schweiz emigrierte und 1939 in die USA zog. 1944 wurde er US-Staatsbürger, kehrte aber 1952 in die Schweiz zurück. Er zählt zu den bedeutendsten Erzählern deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Sein älterer Bruder Heinrich und drei seiner sechs Kinder (Erika, Klaus und Golo) waren ebenfalls Schriftsteller. Für seinen ersten Roman („Buddenbrooks“, 1901) erhielt er 1929 den Literaturnobelpreis. Es folgten Novellen und Erzählungen wie „Tonio Kröger“, „Tristan“, „Der Tod in Venedig“. 1924 wurde der monumentale Roman „Der Zauberberg“ veröffentlicht. FOTO: dpa