Er war eine zentrale Figur während des Mauerfalls, letzter Vorsitzender der SED/PDS in der DDR und im vereinigten Deutschland die wichtigste Stimme der Linken: Gregor Gysi. In seiner Autobiografie erzählt der 72-jährige Anwalt und Politiker offen über sein Leben in zwei Systemen, nicht selten mit seinem typischen Augenzwinkern. Seine Lesungen sind in der Regel ausverkauft, so auch am 27.Februar beim mainfränkischen Literaturfestival („MainLit“) in Würzburg. Dieses Interview war ausgemacht für den 5. Februar. Wenige Stunden vor dem Gespräch wurde im Thüringer Landtag der FDP-Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Klar, dass Gysi sich zunächst zu dem Tabubruch in Thüringen äußerte, danach ging es wie geplant um sein Leben, um Prägungen, Veränderungen und Verpasstes.
Frage: Herr Gysi, darf ich „Ossi“ zu Ihnen sagen?
Gregor Gysi: Ja, das dürfen Sie. Obwohl ich mich in Wirklichkeit bundesdeutsch gewandelt habe. Ich mag auch Bayern oder Baden-Württemberg. Wissen Sie, die DDR-Führung wollte immer ein ostdeutsches Bewusstsein schaffen – was ihr nie richtig gelungen ist. Aber der Bundesrepublik ist es dann gelungen.

Was zeichnet Sie denn heute noch als Ossi aus?
Gysi: Dass ich besser verstehe, was dort vorgeht. Dass ich die Seele der Menschen eher verstehe. Das, wodurch sie verletzt worden ist. Nicht Helmut Kohl und die Bundesregierung haben die Freiheit und die Demokratie in den Osten gebracht – die Menschen dort haben sie sich erdemonstriert. Es wurden in der Einheit Fehler gemacht, die zu einem ostdeutschen Bewusstsein beigetragen haben.
Welche meinen Sie?
Gysi: Dass in der Symbolik des vereinigten Deutschland nicht ein Jota aus Rücksicht auf den Osten geändert wurde – nicht in der Bezeichnung des Landes, der Hymne, der Fahne, dem Emblem oder dem Titel von Bundesbehörden. Das sitzt und demütigt. Hätte die Bundesrepublik weiter einige Sachen aus der DDR übernommen, wäre die Vereinigung anders gelaufen. In der Gleichstellung der Geschlechter etwa war man im Osten deutlich weiter.

Waren Sie selbst als Intellektueller mit adeligen Vorfahren im Arbeiter- und Bauernstaat ein Außenseiter?
Gysi: Das Schlimmste war eine sehr verbreitete Intelligenz-Feindlichkeit. Man mochte Intellektuelle nicht, der Apparat war anders besetzt, so dass es Leute wie ich dort nicht unbedingt leicht hatten. Auf der anderen Seite wusste man auch, dass man solche Leute braucht.
Wenn Sie heute mit ihrer Autobiografie auftreten, sind die Lesungen Wochen im voraus ausverkauft, so auch in Würzburg. Woher kommt dieser Zuspruch?
Gysi: Ich glaube, die Menschen sind verunsichert. Im Kalten Krieg war durch die Feindbilder noch alles klar, das hat sich geändert. Und die Verunsicherung führt dazu, dass man einander zuhört und in meinem Falle denkt: Vielleicht hat der Gysi doch die eine oder andere Idee. Außerdem bin ich ja relativ locker und mische ernsthafte politische Aussagen mit unterhaltenden Elementen.
- Interview: "Ich kann nicht anders, ich mag die Bayern"
Als Neffe von Doris Lessing, als Sohn des DDR-Kulturministers mit Tausenden Büchern daheim – hatten Sie schon immer ein besonderes Verhältnis zur Literatur?
Gysi: Meine Mutter war unzufrieden, weil ich als Kind zu wenig las. Aber das hat sich später geändert und mir hat es Spaß gemacht. Ich kannte in meiner Straße auch Jungs, deren Eltern keine Bücher hatten oder nur das Kochbuch. Das ist eine Frage, die mich bis heute beschäftigt: Wie organisiere ich für solche Kinder und Jugendliche die Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Kunst und Kultur.

Und wie ging’s Ihnen mit der Musik? Sie haben die Beatles gehört?
Gysi: Finden Sie mal einen, der in der DDR im Januar 1963 eine Beatles-Platte hatte! Ich glaube immer noch, ich war der Erste – beweisen kann ich es nicht. Aber damals kannte man die Beatles in der DDR noch kaum. Ich erinnere mich gut, weil ich meinen Geburtstag gefeiert und fast die ganze Klasse eingeladen hatte. Die waren natürlich alle begeistert.
Und woher hatten Sie die Platte?
Gysi: Meine Großmutter väterlicherseits hatte sie mir geschickt. Sie lebte in Paris.
Bei so viel Nähe zur Kultur – warum sind Sie dann Anwalt geworden?
Gysi: Ich hatte gesehen, wie meine Eltern gelebt haben, die in der Kultur und in der Politik tätig waren. Diesen Zwängen wollte ich mich nicht aussetzen. Das war also eine Frage der Sozialisation: Man macht bewusst ja auch etwas anderes als die Eltern. Und als ich mich entschieden hatte, Jura zu studieren, war für mich völlig klar, dass ich in den Nischenberuf Rechtsanwalt wollte – obwohl der damals in der DDR als aussterbender bürgerlicher Beruf galt.

Und Sie haben Jura auch aus Bequemlichkeit studiert? Der faule Gregor Gysi…? Denkt man gar nicht.
Gysi: Hören Sie bloß auf. Ich muss ständig gegen meine Natur leben, das ist sehr anstrengend (lacht). Aber ja, als Schüler war ich eher faul, bis ich mir einen Ruck gegeben habe, weil viel Dümmere in der Schule besser waren als ich. Beim Diktieren ist das aber noch heute so. Ich finde immer eine Ausrede nicht zu beginnen. Aber wenn ich einmal angefangen habe, dann mache ich bis zum letzten Brief durch.
Könnte man die Zeit zurückdrehen, wollten Sie nicht noch einmal Politiker werden. Das ist überraschend. Warum?
Gysi: Es war zu anstrengend. Ich wusste ja, dass es Ärger geben wird. Aber dass ich so viel Anfeindungen bekomme wie Anfang der 90er Jahre mit Angespucktwerden, Beleidigungen und anderen Dingen – das hatte ich nicht erwartet. Und ich habe eine neue Eigenschaft an mir entdeckt: Ich werde dann preußisch stur und kann nicht einfach gehen.
Was waren das für Anfeindungen? Im Kontext der Stasi-Verdächtigungen?
Gysi: Auch. Hier haben die Gerichte dann abschließend entschieden, und es war gut. Aber schon Anfang der 90er Jahre hat mich die Mehrheit der Bevölkerung strikt abgelehnt. Was ich verstanden habe. Ich habe alles weggesteckt und ausgehalten, genieße aber mein jetziges Leben. Es ist mir gelungen, erst die Akzeptanz einer Mehrheit der Ostdeutschen, dann einer Mehrheit der Westdeutschen zu bekommen. Und zum Schluss in Bayern, das war mit am schwersten. Aber selbst das habe ich geschafft.

Warum verstehen Sie die Anfeindungen?
Gysi: Ich habe die Partei übernommen, die in der DDR die Hauptverantwortung für alles Negative trug. Nur: Auch deren Angestellte und die des Staates mussten einen Weg in die Einheit finden. Das war die historische Aufgabe meiner Partei und von mir persönlich. Zu meinem 70.Geburtstag bin ich von CDU-Leuten gewürdigt worden, weil ich im Kontext der Einheit die Interessenvertretung übernommen hätte, die am schwersten war. Dafür habe ich mich damals auch von CDU-Leuten beschimpfen lassen.
Sie haben sich öffentlich bei ihren Freunden und Angehörigen entschuldigt, weil Sie zu wenig Zeit für sie hatten. Haben Sie sich zu oft zu wichtig genommen?
Gysi: Ja, natürlich. Leute in der ersten Reihe nehmen sich immer zu wichtig. Die Frage ist, wie weit man das übertreibt oder nicht. Wissen Sie… jeder Termin in der Vergangenheit war wahnsinnig wichtig. Aber ich habe die meisten vergessen. Also können sie so wichtig nicht gewesen sein. Und wenn du dich zehn Jahre bei einem Freund nicht meldest, dann kriegst du das nicht im elften Jahr geheilt. Wenn er dreimal anruft und du hast nie Zeit – dann geht das an die Substanz einer Freundschaft. Anderen sage ich heute: Kinder, Liebe und Freundschaften sind wichtiger als Politik. Wenn man das vergisst, bezahlt man mit dem Verlust von Freundschaften.
Kennen Sie Einsamkeit?
Gysi: Nein, aber die Furcht vor Einsamkeit. Deshalb versuche ich sie zu vermeiden.

Und sind deshalb immer noch voll auf Touren, ständig in Kontakt mit Menschen in Kontakt? Das kann auch eine Flucht sein.
Gysi: Kann stimmen – wenn ich in einer anderen Familienstruktur lebte, würde ich weniger Termine annehmen. Aber auch so will ich versuchen, weniger anzunehmen, um wieder mehr Zeit zu haben. Das hinzubekommen, ist nicht so leicht.
Das Alter beschreiben Sie als Ihr „siebtes Leben“ – nach Kindheit und Jugend, Studium, Anwaltszeit, Wendephase und zwei Lebensabschnitte im vereinten Deutschland. Sie sind 72, wann beginnt dieses neue Leben?
Gysi: Wenn es soweit ist, rufe ich bei der Main-Post an und sage es Ihnen! Versprochen.
Die nächsten Bundestagswahlen rücken näher. Werden Sie noch einmal in Ihrem Berliner Wahlkreis antreten?
Gysi: Das werde ich zu gegebener Zeit bekannt geben.
Nichts zu entlocken?
Gysi: Nein, im Moment nicht. Auch hier rufe ich dann gerne die Main-Post an.
Zum Schluss bitte ein Satz zum Vervollständigen: Humor ist…
Gysi: … die Fähigkeit, die Sache ernster zu nehmen als sich selbst. Dann kannst du humorvoll auch gegen dich sein. Über meine Selbstironie freuen sich die Leute am meisten.
