Sind Journalistinnen und Journalisten kritikfähig? Darüber lässt sich trefflich streiten. Als Einstieg dazu blicken wir auf Toni Kroos' umstrittenen Abgang aus dem Live-Kurz-Gespräch des ZDF-Journalisten Nils Kaben direkt nach dem von Real Madrid mit Kroos gewonnen Champions-League Finale gegen Liverpool.
Kroos lässt Kaben nach einer Frage einfach stehen und mit ihm Millionen TV-Zuschauer. Seine unerwartete Antwort wird zur kritischen Begründung für den Gesprächsschluss, den kurzerhand der Fußballer herbeiführt.
Wie kritikfähig sind Journalistinnen und Journalisten?
Die meisten Debatten nach diesem vielbeachteten Ereignis drehen sich um etwaige moralische Pflichten eines Fußball-Multimillionärs, journalistische Fragen professionell zu beantworten, gerade wenn sie ihm unliebsam sind oder er sie für fachlich verfehlt hält.
Nils Kaben erwartet Respekt. Dazu gebe ich aber nicht auch noch mein Urteil ab. Ich nehme den "Fall Koben-Kroos" lieber zum Anlass, mal wieder nach der Kritikfähigkeit von Journalistinnen und Journalisten zu fragen, somit auch der gegenüber einem berühmten Kicker. Dessen Reaktion hat das ja geradezu provoziert.
Sehr grundsätzliche Kritik von Kai Schächtele
"Sobald es um die eigene Verantwortung geht und darum, sich selbst zu hinterfragen, verschanzt er (der Medienbetrieb) sich hinter den Gesetzen des Marktes: 'Wir bringen doch nur das, was die Leute wollen'." - Das schrieb Kai Schächtele 2018 im Online-Magazin "Übermedien" unter dem Titel "Journalisten können nicht so weitermachen wie bisher". Das war sehr grundsätzlich, auch wenn der Zusammenhang ein anderer war.
Derzeit setzen Medien, so auch diese Redaktion, vor allem darauf, dass es ganz besonders für Beiträge spricht, wenn sie von vielen Menschen genutzt werden. Das ist schließlich messbar.
Studie: Journalisten fühlen sich zunächst dem eigenen Gewissen verpflichtet
Allerdings sagen Nutzungszahlen kaum etwas darüber, wie die Veröffentlichungen oder der Kroos-Auftritt auf Leserinnen und Leser wirken, wie ihre Wahrnehmung oder die einer Mehrheit ist. Das zu untersuchen ist schwierig. Umfragen, die sich jedoch nur innerhalb der Branche bewegen, lassen dazu schon eher Wertungen zu. So bemängelte schon 2013 die Professorin Susanne Fengler nach einer "MediaAct"-Studie geringes Pflichtbewusstsein von Journalistinnen und Journalisten (1762 Befragte aus zwölf Ländern) gegenüber Rezipientinnen und Rezipienten. 95 Prozent fühlten sich damals zunächst ihrem eigenen Gewissen verpflichtet. Leser, Zuschauer oder Hörer kamen erst an vierter Stelle.
Mäßig war in der Studie auch das Echo unter den deutschen Journalistinnen und Journalisten auf die Frage, ob genug auf Publikumsbeschwerden reagiert werde oder Debatten über Qualität davon befördert würden. Und verantwortlich fühlten sich damals Journalistinnen und Journalisten mehr gegenüber ihren Quellen als gegenüber dem Publikum.
Wer kritisiert, sollte sich selbst auch der Kritik stellen
Journalisten kritisieren Tag für Tag Politiker, Bosse, Funktionäre oder Künstler. Wer das professionell tut, sollte sich selbst ebenfalls einer förderlichen Kritik über mögliche Wirkungen seiner Arbeit stellen können. Das gilt es intern in Redaktionen sicherzustellen. Doch nur ein Viertel der 2013 Befragten, so die Studie, beanstandet häufig Beiträge von Kollegen. Mehr als ein Drittel der deutschen Journalistinnen und Journalisten tut das nur selten oder nie.
So bleiben oft nur Reaktionen von Rezipienten, die den Redaktionen etwas über die Wirkung ihrer Arbeit sagen. Das kann aufschlussreich sein, wenn die Kritik nachvollziehbar ist und wenn sich die Journalisten selbst als kritikfähig erweisen. Letzteres wird in journalistischen Leitlinien meist erwartet, kann aber individuell durchaus unterschiedlich ausfallen. Meist interessengeleitet sind natürlich Kritiken derer, die von Veröffentlichungen betroffen sind. Dazu gehören Politikerinnen und Politiker.
Uni Leipzig befragt die Redaktion nach Wahrnehmung des Leseranwaltes
Ich beurteile und erkläre als Leseranwalt hier häufiger journalistische Leistungen, oft nach wichtigen und begründeten Hinweisen aus der Leserschaft. Wie diese Kritik intern wahrgenommen wird, dazu befragt derzeit die Uni Leipzig die gesamte Redaktion dieser und einiger anderer Zeitungen. Es sind nur wenige, die ihren Leserinnen und Lesern eine solche Einrichtung anbieten. Wenn die Umfrage ausgewertet ist, wird über Ergebnisse berichtet werden. Ich hoffe, dass es in der Folge auch eine Umfrage in der Leserschaft gibt.
Besonders gut und hilfreich ist es freilich, wenn Sie als Leserin und Leser Journalistinnen und Journalisten möglichst sachlich mitteilen, wie ein Beitrag auf Sie gewirkt hat. Das wissen nur Sie selbst und das hängt stark von den eigenen Erwartungen ab. Die können sich durchaus von den journalistischen unterscheiden. Deshalb ist es zu wünschen, dass Autorinnen und Autoren ihre im Einzelfall erkennen lassen. Das ist ein wichtiges Stück Transparenz.
Zu guter Letzt: Jede kritische Zuschrift kann zum aktuellen Test von journalistischer Kritikfähigkeit werden. Das betrifft dann gleichermaßen den Schreiber dieser Zeilen.
Anton Sahlender, Leseranwalt. Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
Frühere ähnliche Leseranwalt-Kolumnen:
2015: "Eine Hoffnung: Sensationslüsterner Journalismus hat keine Zukunft"
2018: "Kampf um Aufmerksamkeit und Reichweite"
2020: "Journalisten sollen ihre Arbeit reflektieren"