Tageszeitungen zu lesen ist oft nützlich. Wie das für die Artikel des Leseranwalts gilt, zeigt die Anfrage einer Frau. Sie hatte den am 30. Dezember veröffentlichten Beitrag "Warum Täter meist namenlos bleiben, Richter aber nicht" gelesen. Sie stimmte dem erklärenden Inhalt zu, dass nicht alle verurteilten Täter namentlich genannt werden dürfen, so wie das auch bei Urteilen über Gewalttäter bei Demonstrationen in Schweinfurt vermieden wurde.
Besucherin einer Gemeinderatssitzung namentlich genannt
Umso erstaunter zeigt sich die Leserin nun, dass über sie als Besucherin einer Gemeinderatssitzung namentlich berichtet worden ist. Der Bürgermeister als Sitzungsleiter soll sie in deren Verlauf "gerügt" haben, weil sie ohne Genehmigung Aufnahmen von der Präsentation eines Architekten machte. Dies wurde danach im betreffenden Lokalteil der Zeitung und auch online so veröffentlicht. Dabei wurde der Hinweis des Bürgermeisters auf das Aufnahmeverbot wörtlich als "Rüge" an die Frau bezeichnet.
Dem Ruf zur Ordnung zu viel Gewicht verliehen
Der Vergleich der ob ihrer Aufnahmen gerügten Sitzungsbesucherin mit verurteilten Tätern hinkt zwar gänzlich. Umso überzogener ist es aber, die betroffene Bürgerin im Bericht zu identifizieren. Es entsteht ein Medienpranger, der durchaus Persönlichkeitsrechte berührt. Auch ethisch gesehen ist die Namensnennung in der Veröffentlichung kaum zu vertreten. Sie verleiht einem Ordnungsruf ein Gewicht, das er nicht hat.
Wie der Name Nachricht werden könnte
Etwas anders sieht es aus, wenn eine Person schon zuvor öffentlich engagiert aufgetreten ist und das mit Bezug zum Thema der Bilder des Architekten, die sie aufgenommen hat. Dann könnte ihr Name zu einem erklärten Teil der Nachricht werden. Ein solches "Engagement" wird aber aus dem Gemeinderat nicht berichtet. Das wäre aber notwendig, um die Identifizierung zu rechtfertigen. Deshalb wurde nach meiner Empfehlung der Vorfall samt Namen aus dem Online-Bericht über die Sitzung gelöscht.
Die Rüge gilt der Redaktion
Außerdem hat mich die Betroffene darauf hingewiesen, dass in jener Sitzung kein Berichterstatter dieser Zeitung anwesend gewesen sei. Das stimmt, bestätigt mir die zuständige Lokalredaktion. Das kommt tatsächlich hin und wieder vor. Dann besorgen sich Berichterstatter – wie im vorliegenden Fall – die Informationen zur Sitzung (hier auch zur Rüge) im Nachhinein aus anderen Quellen, meist aus der Verwaltung. Das muss in dem Artikel, der daraus entsteht, allerdings klar ersichtlich sein, möglichst mit Nennung der jeweiligen Quelle.
Damit ist hier mal die Redaktion selbst für eine erhebliche Schwäche des Beitrages aus dem Gemeinderat zu rügen. Leserinnen und Leser gewannen daraus den falschen Eindruck, der Autor sei vor Ort gewesen. Das war nicht der Fall, ist aber unerwähnt geblieben.
Es geht um Kontrollfunktion
Ein solcher Bericht kommt fast der Pressemitteilung aus einem Rathaus gleich, die veröffentlicht wird, als wäre sie redaktionell selbst recherchiert. Das bedeutet (wie im geschilderten Fall) auch, dass der Autor oder die Redaktion ungeprüft die volle Verantwortung für Informationen und Darstellungen aus fremden Quellen übernimmt. Das weicht erheblich von journalistischen Grundsätzen der Quellenklarheit ab. So würde eine Lokalzeitung ihrer Kontrollfunktion, die gerade gegenüber lokaler Politik und Verwaltung besteht, nicht glaubwürdig gerecht.
In einer meiner nächsten Kolumnen werde ich mich redaktionellen Schwächen bei der Veröffentlichung von Pressemitteilungen beschäftigen, weil diese für die Leserschaft von Bedeutung sind.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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