Ein Leser wirft der Autorin des Leitartikels vom 15. Dezember vor, ihre Wortwahl postuliere unverblümt, die Staatsregierung begehe eine schwere Straftat, nämlich die der Erpressung. Er bemüht dazu das Strafgesetz und verurteilt den Vorwurf eines Verbrechens, der im Leitartikel unerklärt bleibe.
Die Überschrift, auf die sich der Mann bezieht, lautet: "2 G für Teenager ist ungerecht und unsozial" und direkt darunter ist im zweiten Satz zu lesen, woran er sich stört: "<…>. Damit erpresst der Freistaat Eltern und bestraft junge Menschen." Der Kritiker räumt ein, vielleicht solle damit zum Ausdruck gebracht werden, die Staatsregierung nötige Eltern. Doch auch in einer Nötigung sieht er den Vorwurf von strafbarem Verhalten des Freistaates.
Falls die Redaktion einwende, "'erpressen' sei 'nur' umgangssprachlich verwendet", verkenne sie die herausgehobene journalistische Bedeutung des Leitartikels, in dem (auch umgangssprachliche) Nachlässigkeiten keinen Platz hätten. Das zitiert mir der Leser als seine Erkenntnis aus Wikipedia. Ja, für Nachlässigkeiten ist tatsächlich kein Platz.
Der Tatsachengehalt tritt hinter die Wertung zurück
Bei allem Respekt - die weitergehende Interpretation des Lesers zielt aber an der Freiheit der Meinungsäußerung im Rahmen der Pressefreiheit vorbei. Schon die Kennzeichnung als Leitartikel macht deutlich, dass bereits die Überschrift Meinung ist. Und selbst unbefangensten Leserinnen und Lesern dürfte klar sein, dass von einer Erpressung im Sinne des Strafrechts nicht die Rede ist, sondern mit dem Verb "erpresst" das Handeln der Landesregierung scharf bewertet wird. Der Tatsachengehalt des Wortes tritt also hinter die Wertung zurück.
Journalistinnen und Journalisten dürfen so hart beurteilen, gerade wegen ihrer öffentlichen Aufgabe. Die sieht vor, auch Politik und deren Maßnahmen zu kontrollieren. In den politischen Auseinandersetzungen selbst sind bekanntlich noch schärfere oder abwertende Beurteilungen nicht unüblich. Meist gehen sie als Meinungsäußerung durch, weil sie im Kontext von Kontroversen zu Sachthemen gemacht werden.
Journalismus, der auf Kritik verzichtet, würde seiner Aufgabe nicht mehr gerecht
Der Text des kritisierten Leitartikels befasst sich nicht mehr mit "Erpressung", sondern mit einer staatlichen Maßnahme, die aus Sicht der Autorin kritikwürdigen Druck auf Teenager ausübt. Das erschließt den Kontext, auf dem der moralisch gemeinte Erpressungsvorwurf fußt. Das zeigt auch hier eine Kontroverse in der Sache als Hintergrund.
Und Journalismus, der auf notwendige Kritik an Corona-Beschlüssen verzichtet, weil sie die Impfgegner befeuern könnte, würde seiner Aufgabe nicht mehr gerecht und verlöre an Glaubwürdigkeit. Mit dieser auch im vorliegenden Fall unzutreffenden Logik müsste auf eine Menge Meinungsbeiträge verzichtet werden. So legt sich aber kein seriöses Medium selbst lahm.
So hat schon das Bundesverfassungsgericht geurteilt
Unabhängig von diesen Erklärungen der Rechtmäßigkeit kann es aber jeder Leser oder jede Leserin gut oder schlecht finden, Politik mit strafrechtlichen Begriffen zu bewerten. Das, obwohl auch Urteile des Bundesverfassungsgerichts folgendes sagen: Rechtsbegriffe dürfen nicht ohne weiteres im fachlich-technischen Sinne, sondern auch abgeschwächt umgangssprachlich verstanden werden. Und im politischen Meinungskampf muss in öffentlichen Auseinandersetzungen auch polemische Kritik hingenommen werden, weil sonst die Gefahr der Verengung oder Lähmung des Meinungsbildungsprozesses droht.
Anton Sahlender, Leseranwalt
Siehe auch Vereinigung der Medien-Ombudsleute e.V.
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2008: "Denkende Menschen und intellektuelle Beleidigungen"
2017: "Es geht um die streitbare Form der Wahrheitssuche"
2017: "Eine Meinung ist nicht mit Beweismitteln auf ihre Richtigkeit zu überprüfen"
2017: "Der Meinungskampf erlaubt abwertenden Vorwürfe"