Wie das geschehen konnte und vor allem warum: diese Fragen soll der Prozess gegen die Eltern der kleinen Jessica seit Mittwoch klären.
Staatsanwalt Bernd Mauruschat muss sich mehrfach räuspern, während er die Anklageschrift verliest. Mord durch Unterlassen und Misshandlung von Schutzbefohlenen wirft er dem unverheirateten Paar vor. Gemeinsam soll es Jessicas Tod beschlossen haben - um jahrelange Misshandlungen zu vertuschen. Juristische Begriffe, hinter denen eine grauenhafte Wahrheit steht.
Es die Geschichte eines siebenjährigen Mädchens, dessen Kinderzimmer zum dunklen Verlies wurde - mit abgedrehter Heizung, verriegelter Tür und ohne Toilette. Das keinen Lichtschimmer zu Gesicht bekam, weil seine Fensterscheibe mit schwarzer Folie abgeklebt und die Glühbirne der Lampe herausgedreht war. Das Hunger und Durst litt und vor lauter Verzweiflung eigene Haare und Teppichstücke schluckte. So schwach soll Jessica gewesen sein, dass sie nicht einmal mehr in die von den Eltern installierte tödliche Stromfalle tappen konnte. Fünf Jahre dauerte das Martyrium. Am Ende wog sie noch 9,6 Kilogramm.
Ihr Vater, ein dürrer Mann, dem der Psychiater eine schwache Persönlichkeitsstruktur attestierte, will zu den Vorwürfen schweigen. Jessicas Mutter hingegen will erklären, was sich kaum erklären lässt. "Meine Mandantin wird sich zu ihrer Schuld bekennen", kündigt ihr Anwalt Manfred Getzmann vor Gericht an. Sie wird keine Rücksicht verlangen und kein Verständnis erwarten. Marlies Sch., in Tränen aufgelöst, blickt zu Boden. Auf der Holzbank hat sie ihre zittrigen Hände ineinander verschränkt. Ob sie ihrer Tochter damit je über den Kopf strich, sie liebkoste?
Während Jessica in der Dunkelheit mit dem Tod rang, lebten Marlies Sch. und Burkhard M. ihren Alltag, als sei nichts geschehen. Die Tage verbrachten die Sozialhilfeempfänger in der Kneipe um die Ecke, abends kehrten sie heim und kümmerten sich um die Hauskatze - ein wohlgenährtes Tier.
Über Jessicas kurzes Leben ist weniger bekannt. Sicher ist die Anklage, dass sie isoliert von der Außenwelt aufwuchs und sich nicht ihrem Alter gemäß entwickeln konnte. In Jessicas Leben gab es keine Kindergarten-Freunde, keine Mitschüler und Paten-Tanten. Nachbarn beteuern, das Mädchen aus dem siebten Stock nie gesehen und von seiner Existenz nichts geahnt zu haben. Bekannte, die nach Jessica fragten, wimmelten die Eltern ab. In der Nacht zum 1. März erstickte das Mädchen an Erbrochenem.
Bei einer Verurteilung droht den Angeklagten lebenslange Haft. Doch auf die entscheidende Frage wird das Strafgesetzbuch keine Antworten geben können: Wie kann es sein, dass ein siebenjähriges Mädchen mitten in Deutschland verhungert, ohne dass jemand etwas merkt? Das Jugendamt schloss die Akte von Marlies Sch., nachdem sie vor Jahren einen Sohn zur Adoption freigegeben hatte und zwei weitere Kinder dem Ex-Mann zugesprochen worden waren. Die Schulbehörde beließ es bei einem Bußgeldbescheid, als Jessica nicht zur Einschulung kam.
Zum Schluss war es, als hätte es jenes am 25. August 1997 geborene Mädchen nie gegeben. Alles was das Gericht tun könne, sei Prävention, sagt Verteidiger Getzmann: "Für alle Kinder, die nicht auf der Sonnenseite stehen, hoffe ich, dass hier etwas gelernt wird".