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WÜRZBURG: "Das letzte Kapitel der Hitlerei"

WÜRZBURG

"Das letzte Kapitel der Hitlerei"

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    Zeitzeugin Éva Fahidi in Würzburg: „Gleichgültigkeit ist wie ein Gift.“
    Zeitzeugin Éva Fahidi in Würzburg: „Gleichgültigkeit ist wie ein Gift.“ Foto: Foto: Thomas Obermeier

    Sie ringt um Fassung, ihre grauen Augen glitzern. Bewegt nimmt Éva Fahidi den Applaus ihres Publikums entgegen. Über 800 Menschen zollen der 89-Jährigen am Dienstag im Jüdischen Gemeindezentrum Shalom Europa stehend Respekt. „Nie beantwortbare Fragen“ – lautet das Motto des Abends. Die Auschwitz-Überlebende nimmt betippte Blätter mit aufs Podium. Sie bleiben jedoch auf dem Tisch liegen. Éva Fahidi braucht sie nicht. Sie spricht frei. „Es ist wie eine Münze, die man hineinwirft“, sagt sie, „dann fange ich an zu reden.“

    Die „Holocaust-Aktivistin“ – so nennt sie sich – hat nichts vergessen: nicht die Gleichgültigkeit der ungarischen Bevölkerung, als sie und ihre jüdischen Mitbürger zum Bahnhof getrieben werden, nicht den Transport im Viehwaggon nach Auschwitz-Birkenau in den heißen Junitagen 1944, nicht den stinkenden Kübel oder den Blick ihrer jüngeren Schwester. Nicht vergessen bis heute sind die Demütigungen und Herabsetzungen, die Schreie, der Geruch im Konzentrationslager, der entsetzliche Hunger, ihr Hass, der über Jahre ihr Inneres „verwüstet“ hat, ihr langes Schweigen.

    „Könnt ihr euch das alles vorstellen?“, fragt Éva Fahidi ihre vielen Zuhörer. Aber auch: „Wie konnte man das aushalten?“ Und: „Kann man verzeihen?“ „Wie?“

    Éva Fahidi ist auf Einladung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Katholischen Hochschulgemeinde nach Würzburg gekommen. Sie spricht über den ungarischen Holocaust. „Die Menschen wissen so wenig über dieses letzte Kapitel der Hitlerei.“

    Im Frühjahr 1944 steht das Nazi-Regime bereits mit dem Rücken zur Wand. In dieser Phase werden laut Fahidi „in nur 57 Tagen“ rund 450 000 ungarische Juden in die Vernichtungslager geschickt. Obwohl das Land „nicht sehr entwickelt“ gewesen sei, hätten sich 147 Züge für die Deportation gefunden. „Über 300 000 werden sofort in die Gaskammern geschickt“, erzählt Éva Fahidi. Darunter ihre engsten Familienmitglieder. Auch das wird die Zeitzeugin, die 1925 in Debrecen in eine wohlhabende Familie hineingeboren wurde, nie vergessen können.

    Sie wächst behütet auf. „Bis ich den gelben Stern tragen musste, wusste ich nichts vom Holocaust“ – das war im März 1944. Am 1. Juli 1944 steht sie an der Rampe. Sie ist 18 Jahre alt. Innerhalb weniger Sekunden verliert sie ihre Mutter Irma, ihre elf Jahre jüngere Schwester Gilike, ihre Cousine Boci und deren sechs Monate altes Kind. Alles geschieht sehr schnell – zu schnell. Verabschieden kann sich Éva Fahidi nicht. Ihr ist nicht bewusst, dass sie ihre Lieben nie wieder sehen wird. „Die größte Tragödie meines Lebens geschah so, dass ich sie nicht einmal bemerkte.“

    Éva Fahidi verweist an diesem Abend öfter auf ihr Buch „Die Seele der Dinge“ (erschienen im Lukas Verlag). Darin schildert sie die Selektion ausführlich: Deutsche hätten sie in Empfang genommen, leise hätten sie gesprochen, „fast könnte man sagen freundlich“. Freundlich ist auch ein „deutscher Herr“ – Josef Mengele. Er fragt, ob sie und ihre Cousine Zwillinge seien. Beide antworten: „Nein.“ Sie folgen seiner Handbewegung. Éva Fahidi geht in die eine, ihre Cousine und der Rest ihrer Familie in die andere Richtung. Nicht beantwortbar ist die Frage, was geschehen wäre, wenn beide „Ja“ gesagt hätten.

    Was ihr bleibt, ist die Erinnerung, ihre Vorstellung davon, wie es gewesen sein könnte. „Wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich wie meine Mutter und meine Schwester zum Krematorium laufen, dann sehe ich das Gesicht meiner Mutter, als sie realisiert, dass sie gleich sterben wird.“ Insgesamt töten die Nationalsozialisten 49 Mitglieder ihrer großen Familie. Ihr Vater stirbt an den unmenschlichen Bedingungen im Lager.

    Die 89-Jährige lächelt oft an diesem Abend. Ihr hohes Alter erscheint als Irrtum, ihr Schwung verblüfft. Sie wirkt jünger, ist voller Leben. Freundlich blickt sie in den Saal, freut sich, dass „so viele junge Leute“ da sind.

    Ihr Gesicht verändert sich jedoch, als sie vom Auschwitz-Prozess in Lüneburg berichtet, wo momentan SS-Mann Oskar Gröning vor Gericht steht. Sie ist sich sicher: „Er war an der Rampe in Birkenau während der ungarischen Shoa! Er könnte alles erzählen, es ist unmöglich, dass er nichts gesehen hat.“ Bei seinen Aussagen „wäre ich fast aus meiner Haut gefahren. Ich wollte ihn anspucken.“ Sie ärgert sich über das „Wie er gesprochen hat“ und dass er „gewagt“ hat zu sagen, er sei nur drei Mal an der Rampe gewesen. Sie gesteht, dass die Möglichkeit, vor einem deutschen Gericht als Nebenklägerin auszusagen, „die schönste Genugtuung war, die ich bekommen habe“.

    Éva Fahidi hat lange gehasst, „die ganze Welt“. Und viele Jahre konnte sie nicht über ihre Zeit ab Juli 1944 in Auschwitz und ab dem 13. August 1944 als Zwangsarbeiterin in dem Rüstungsbetrieb in Allendorf sprechen. „Ich wäre verrückt geworden, hätte nicht leben können. Es war alles noch zu nah.“ Irgendwann wollte sie nicht mehr hassen. 1990 bricht sie ihr Schweigen – in Stadtallendorf, das frühere Allendorf. 2004 schreibt sie ihre Lebensgeschichte. „Anima rerum“ – die Seele der Dinge lautet der erste Titel. Denn sie hütet Erinnerungsstücke, die ihr von ihrer großen Familie geblieben sind. Etwa das Nachthemd ihrer Schwester Gilike, das sie nach ihrer Rückkehr nach Ungarn vom ehemaligen Angestellten ihres Vaters zurückerhalten hat. Ebenso eine kleine Dose. Sie ist für Éva Fahidi sehr wertvoll, weil ihre Mutter sie einst in der Hand, berührt hatte. „Dinge, die man mit Geld kaufen kann, sind unwichtig. Das Leben ist das Wichtigste. Leben, das man verloren hat, kann man nicht mehr mit Geld kaufen.“

    Éva Fahidi spricht viel und lange an diesem Abend. Sie hofft, dass ihre Zuhörer Schlussfolgerungen ziehen. „Und wenn Sie sich nur an einen einzigen Satz erinnern, dann habe ich nicht umsonst gesprochen.“

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