Die Journalistin Christine Finke lebt mit ihren Kindern Pippilotta, Titus und Tosca in Konstanz am Bodensee, und an ihre Schulsportzeit hat die 49-Jährige offenbar keine schöne Erinnerungen. Deshalb hat die Autorin vor wenigen Tagen eine Petition ans Bundesfamilienministerium gestartet mit dem Ziel: „Schafft die Bundesjugendspiele ab!“ Seitdem erwächst sich das Lüftchen vom Bodensee aus zu einem kleinen Sturm, einem Sturm der Entrüstung.
Vor allem in den Sozialen Netzwerken wie Facebook liefern sich Befürworter und Gegner eine heftige Schlacht mit Worten. „Schwachsinnig“, schreibt etwa der Landtagsabgeordnete Günther Felbinger aus Gemünden (Freie Wähler) über die Initiative auf Facebook und löste damit seinerseits eine heftige Debatte aus. Eine Userin schreibt ihm beispielsweise: „Am Ende leiden die Kinder, weil sie gerade an dem Tag nicht fit waren und müssen sich den Hänseleien anderer aussetzen!“
In ihrer Begründung der Petition schreibt die Konstanzer Stadträtin Christine Finke: „Ich tue das für all die Kinder, die jedes Jahr am Abend vor den Bundesjugendspielen Bauchschmerzen haben, für jene, die während der Wettkämpfe am liebsten im Boden versinken würden, und für alle, die hinterher beim Verteilen der Urkunden am liebsten in Tränen ausbrechen würden.“ Sie selbst sei früher immer „die Langsamste im Rennen, die Schlechteste im Werfen“ gewesen und hatte „blamable Ergebnisse im Weitsprung“. Als Mutter könne sie nicht verstehen, „warum es heute noch für gut befunden wird, Kinder zu zwingen, sich in eine sportliche Wettbewerbssituation zu bringen“, die mit „Demütigung und Ohnmachtsgefühlen“ verbunden sei.
- PRO Bundesjugendspiele: Raus aus der Komfortzone!
- KONTRA Bundesjugendspiele: Zwangs-Wettkämpfe abschaffen!
Über die Wirkung ihrer Initiative ist Finke überrascht: Nicht nur haben bis Donnerstagmittag 5939 Menschen die Petition auf der Internetseite www.change.org unterzeichnet.
Darunter ist auch ein Sammelsurium der Gegner und ihrer Stimmen zu finden: So schreibt etwa der Unterzeichner Achim Shaukat: „Ich unterschreibe daher, weil Spiele nach wissenschaftlichen Definitionen freiwillig sein sollten und leseschwache Schüler auch nicht zum Vorlesewettbewerb gezwungen werden (wieso dann schlechte Sportler zu den Bundesjugendspielen?). Auch die Auswahl der Sportarten hält er für rein willkürlich, nicht mehr zeitgemäß und schon gar nicht lebensrelevant (Kugelstoßen, Weitwurf).“
Prompt griffen auch viele überregionale Medien das Thema auf. Zeitungen wie die „Welt“ oder „Zeit“, aber auch der SWR strickten auf ihren Onlineportalen die Debatte weiter. „Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, ein so großes Echo zu bekommen“, sagt Finke dieser Redaktion. „Offenbar hat jeder eine Meinung zu den Bundesjugendspielen, und das Thema scheint stark emotional besetzt. Viele erleben sozusagen eine doppelte Betroffenheit, denn man erinnert sich an seine eigene Kindheit und ist über die eigenen Kinder erneut betroffen.“
Es werde erbittert debattiert, diskutiert, „oft auch unter der Gürtellinie – aber immerhin wird das Thema neu gedacht. Und wenn am Ende nur rauskommt, dass die Spiele freiwillig werden, dann wäre das schon ein großer Erfolg.“
Bundesjugendspiele in der jetzigen Form gibt es verbindlich an deutschen Schulen seit 1979, beschlossen durch die Kultusministerkonferenz. Bis zur zehnten Klasse müssen die Schüler in verschiedenen Disziplinen der Sportarten Leichtathletik, Turnen und Schwimmen antreten – am Ende winken Sieger- oder Ehrenurkunden – seit zehn Jahren gibt es auch Teilnehmerurkunden.
Der Orthopäde und Sportmediziner Dr. Reiner Wirsching aus Volkach (Lkr. Kitzingen) kennt Leistungssport aus eigener Erfahrung. Von 1988 bis 1992 war er Bundesliga-Profi beim 1. FC Nürnberg, heute sagt er: „Unsere Kinder haben ausreichend Sport und Bewegung viel nötiger als wir damals.“ Weil Kinder heutzutage häufig an Computern sitzen oder mit ihren Smartphones spielen, komme die Bewegung zu kurz. „Bei uns damals hat sich die Freizeit noch auf der Straße abgespielt, wir haben Fußball oder Völkerball gespielt.
In meiner Praxis muss ich feststellen, dass Kinder heute keine richtige koordinative Ausbildung mehr haben.“ Oft müsse er 14-, 15-Jährige mit Kreuzbandrissen behandeln, nur weil sie sich vielleicht leicht das Knie verdreht hatten. Für Wirsching ein Beweis dafür, dass der schützende Muskelapparat nicht genug ausgebildet ist. „In der Gesundheitserziehung spielt meiner Meinung nach der Schulsport eine sehr, sehr wichtige Rolle.“ Ob die Bundesjugendspiele nun noch zeitgemäß seien, darüber könne diskutiert werden, so Reiner Wirsching, „aber generell habe ich keine Einwände, wenn ein gewisser Leistungsgedanke auch im Schulsport Einzug hält. Eine Überforderung kann ich durch die Bundesjugendspiele nicht erkennen.“
Für Günther Felbinger sind „die Bundesjugendspiele das i-Tüpfelchen eines Schulsportjahres“. Der Politiker ist selbst Lehrer und war jahrelang ehrenamtlich als Trainer in der unterfränkischen Leichtathletik tätig: „Die Bundesjugendspiele abschaffen zu wollen, ist ein Witz.
Heutzutage haben Kinder in der Schule eher mehr Sport und Bewegung nötig als weniger“, sagt auch er und bringt einen Vergleich: Wenn ein Schüler in Mathematik eine Fünf schreibe, sei er genauso frustriert wie wenn er keine Sporturkunde bekomme: „Deswegen werden ja auch nicht gleich die Mathe-Schulaufgaben abgeschafft. Mein Gott, nicht jeder hat die gleichen Talente.“
Felbinger sieht allerdings dennoch starken Handlungsbedarf im Schulfach Sport, „weil nur 30 Prozent der Sportstunden an Grundschulen von ausgebildeten Sportlehrkräften durchgeführt werden“. Es sei das eigentliche Problem, dass der Staat es zulasse, „dass Kinder im Sport teilweise amateur- und stümperhaft betreut werden.“ Die Buben und Mädchen müssten mit hoher Qualität an die Bundesjugendspiele herangeführt werden, „dann entsteht auch kein Frust.“ Der Landtagsabgeordnete fordert deshalb die zusätzliche Einstellung von Lehrern.
Ins gleiche Horn stößt indes Michael Fahlenbock, Präsident des Deutschen Sportlehrerverbands (DSLV), in der Tageszeitung „Die Welt“: „Wettbewerb macht den Sport nun einmal aus“, sagt er, und weiter: „Ich halte Bundesjugendspiele für richtig – sofern sie als ein Sportfest gesehen werden und die Schülerinnen und Schüler systematisch im Unterricht auf die einzelnen Disziplinen vorbereitet werden“, so der DSLV-Präsident. „Das ist leider oft das Problem: dass Bundesjugendspiele an einer Schule zu spontan stattfinden, ohne echte Vorbereitung.“ Zudem müsse sich jeder vor Augen halten: „Nur Schulen treffen wirklich alle Heranwachsenden.“