Das Thermometer zeigt einige Grad unter null an einem Montag vor 80 Jahren in Unterfranken, aber schneien will es partout nicht, so sehnsuchtsvoll die Kinder auch zum Himmel blicken. Der 30. Januar 1933 ist ein Tag, an dem sich nicht nur diese Hoffnung zerschlägt. Dann steigt die Temperatur plötzlich und es beginnt zu regnen. Mit Asche und Sägemehl versuchen die Menschen, des Glatteises Herr zu werden, das sich auf den kalten Straßen und Wegen bildet.
In Berlin beginnt an diesem Montag Deutschlands zwölfjährige Rutschpartie in den Abgrund. Reichspräsident Paul von Hindenburg hat Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt, sein Kabinett, in dem zunächst außer ihm nur zwei Nationalsozialisten sitzen, ist um die Mittagsstunde vereidigt worden. Am Abend veranstalten Hitler-Anhänger einen kilometerlangen Fackelzug durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei. Entsetzt hören Gegner des Rechtsrucks die Sondersendung im Rundfunk.
In Würzburg bleiben die NSDAP-Mitglieder an diesem Abend ruhig. Helle Begeisterung herrscht dafür unter den SA- und SS-Männern in Schweinfurt. Sie holen ihre Uniformen aus dem Kleiderschrank und ziehen triumphierend durch die Stadt. Zur Siegesfeier trifft man sich in drei mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Lokalen. Auf dem Heimweg kommt einem Trupp von Hitler-Leuten in der Spitalstraße ein Passant entgegen, der nichts vom Regierungswechsel hält und „Freiheit“ ruft. Er erhält einen Faustschlag ins Gesicht. Das Dritte Reich hat begonnen.
In Würzburg verteilten Kommunisten Handzettel, die zum Generalstreik aufforderten. Wie anderswo halten dagegen SPD und Gewerkschaften ihre Anhänger zurück. Das SPD-Blatt „Fränkischer Volksfreund“ schreibt am 2. Februar: „Heute Generalstreik machen hieße, die Munition der Arbeiterschaft zwecklos in die leere Luft zu verschießen.“
Viele Deutsche fürchten sich vor dem, was jetzt folgen kann, vor allem vor einem neuen Krieg. „Was will Hitler außenpolitisch?“, hat das „Fränkische Volksblatt“, Organ der katholischen Bayerischen Volkspartei, am 28. Juni 1932 gefragt und selbst die Antwort gegeben: „Krieg gegen Frankreich, Russland, Polen und die Tschechoslowakei.“ Am 19. Juli 1932 erklärte ein Redner in einer Massenversammlung der Würzburger SPD: „Hitler hat die Jugend mit Wahnsinn und Illusionen erfüllt, was sie heute oder morgen in den Wahnsinn der Verzweiflung stürzen muss.“
Doch es gibt auch hoffnungsvolle Stimmen, sogar unter den unterfränkischen Juden. „Wir hatten in zehn Jahren 20 Reichskanzler“, sagt etwa Maier Uhlfelder, Metzger im Würzburger Stadtteil Heidingsfeld. „Hitler bleibt zwei Monate am Ruder, dann wird auch er abgesetzt.“ Das „Jüdische Wochenblatt für Unterfranken und Aschaffenburg“ gibt am 3. Februar die Parole „Ruhig abwarten!“ aus.
Die neue Berliner Koalitionsregierung aus der NSDAP und der ultrakonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) hat keine Mehrheit im Reichstag. Hitler trotzt dem Reichspräsidenten eine Neuwahl am 5. März ab.
Schon vor dem Wahltag setzt die Einschüchterung der politischen Gegner ein. Führende Kommunisten und Sozialdemokraten werden in Würzburg und Schweinfurt verhaftet, größere Polizeiaufgebote durchsuchen am 2. März Räumlichkeiten der KPD und beschlagnahmen Druckschriften. Dem „Fränkischen Volksblatt“ droht die Polizei mit dem Verbot, falls Chefredakteur Heinrich Leier weiter gegen die neue Regierung Stellung bezieht.
Bei der Wahl am 5. März erhalten die Koalitionsparteien NSDAP (43,9 Prozent) und DNVD (acht Prozent) im Reich nur eine knappe Mehrheit. Viele unterfränkische Wähler zeigen, dass sie keinen Machtwechsel wollen: Nur 33,9 Prozent geben Hitler ihre Stimme, die DNVP muss sich mit 2,7 Prozent begnügen. In den Städten Würzburg und Schweinfurt bleiben die Koalitionspartner unter 40 Prozent, während sich Bad Kissingen (64,7 Prozent) und Kitzingen (57,3 Prozent) mit überwältigender Mehrheit für die neue Regierung aussprechen. Mehr als 50 Prozent erhält die Koalition auch in den Landkreisen Ebern, Hofheim, Kitzingen und Königshofen. Die Schlusslichter mit weniger als 25 Prozent bilden die Landkreise Würzburg und Lohr.
Im ganzen Reich beginnt nun das, was verharmlosend „Gleichschaltung“ genannt wird. Gemeint ist zunächst, dass die neuen Mehrheitsverhältnisse des Reichstags auch auf Länder und Gemeinden übertragen werden. Am Schluss läuft es darauf hinaus, dass überall nur noch Nationalsozialisten das Sagen haben.
Ein symbolträchtiger Akt der Gleichschaltung findet in der Bezirkshauptstadt Würzburg statt. Hier weigert sich der liberale Oberbürgermeisters Hans Löffler am 9. März, die Hakenkreuzfahne am Rathaus aufziehen zu lassen. Als sich NSDAP-Leute über seinen Einspruch hinwegsetzen, wendet sich Löffler an die Polizei, die ein Eingreifen ablehnt.
Am 10. März zeigen die Nationalsozialisten erstmals ungeschminkt, wie sie ihre Macht anzuwenden gedenken. SA- und SS-Trupps besetzen als „Hilfspolizei“ das Schweinfurter Gewerkschaftshaus und das Rathaus, an dem bald ebenfalls die Hakenkreuzfahne weht. Oberbürgermeister Benno Merkle (SPD) wird zusammen mit SPD-Stadträten sowie Funktionären und Betriebsräten der Linksparteien in „Schutzhaft“ genommen, in der sie, trotz des verschleiernden Namens, schutzlos der NS-Willkür ausgeliefert sind. Merkle kommt erst 1934 frei und zieht sich mit seiner Familie nach München zurück.
In Würzburg schleppen ebenfalls am 10. März SA- und SS-Männer Bücher, Plakate, Flugblätter und Zeitungen aus dem Gewerkschaftshaus und verbrennen sie am Abend mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne, dem Symbol der Republik, auf dem Residenzplatz. Auch die Gebäude des „Volksblatts“ und der SPD-Tageszeitung „Fränkischer Volksfreund“ werden besetzt. Es dürfen nur noch zwei Ausgaben des „Volksfreunds“ erscheinen, das „Volksblatt“ wird – nun ohne Chefredakteur Leier – weitgehend gleichgeschaltet.
Am Samstag, 11. März, feiern die jüdischen Würzburger das Purimfest zur Erinnerung an die Rettung der persischen Juden vor dem Tyrannen Haman. Drei Wochen vor der reichsweiten Boykottaktion vom 1. April erzwingen in Würzburg SA-Leute die Schließung jüdischer Geschäfte. Kunden werden tätlich angegriffen, Kraftwagen jüdischer Kaufleute beschlagnahmt.
Am Nachmittag hält der NSDAP-Aktivist Theo Memmel, der wenig später Hans Löffler als OB ablösen wird, eine Hetzrede vor dem „Central-Café“, das dem jüdischen Geschäftsmann Jakob Strauß gehört. „Die Juden können als Ausländer bei uns bleiben“, sagt er, „wir tun ihnen nichts.“
Unterfrankens Weg ins Dritte Reich
Wie im übrigen Reich kam auch in Unterfranken die nationalsozialistische Bewegung nicht über Nacht. Ihre Wurzeln lassen sich bis in die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgen. Damals entstanden zahlreiche rechtsradikale Gruppierungen, die eine Verherrlichung des angeblich höherwertigen Deutschtums mit der Ablehnung aller als „minderwertig“ empfundenen „undeutschen“ Einflüsse verbanden. Von Anfang an dabei: Otto Hellmuth, der spätere Gauleiter.
1919/20: Der „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ überschwemmt Unterfranken mit antisemitischen Flugblättern, Klebezetteln und Zeitungsanzeigen. Ortsgruppen entstehen in Würzburg, Aschaffenburg, Schweinfurt, Ochsenfurt und Marktbreit. In Marktbreit steckt der 23-jährige Zahnmedizinstudent Otto Hellmuth nachts judenfeindliche Flugblätter in Briefkästen.
August 1921: In Kitzingen entsteht eine NSDAP-Ortsgruppe. Würzburg folgt im Dezember 1922.
1922/23: Die von Otto Hellmuth geholte Agitatorin Andrea Ellendt hetzt im Maindreieck bei Veranstaltungen gegen die Republik und die Juden und fordert eine „strikte Diktatur“. Völkische Sturmtrupps terrorisieren Besucher, die anderer Meinung sind.
26. Oktober 1923: Das „Marktbreiter Wochenblatt“, Kampfblatt der Völkischen, schreibt: „Es ist unbedingt notwendig, die Juden zu töten.“ Zu den Mitarbeitern des Wochenblatts gehört Otto Hellmuth, der sich inzwischen als Zahnarzt in Marktbreit niedergelassen hat.
9. November 1923: Am Tag, an dem Hitler in München einen Putschversuch unternimmt, erhält die Ortsgruppe Karlstadt des mit Hitler verbündeten Kampfverbandes „Oberland“ versiegelte Befehle. Die Männer sollen bewaffnet zum Sitz des Regierungspräsidenten nach Würzburg marschieren. Der Putsch bricht zusammen, daher verlassen die Männer Karlstadt nicht. Die NSDAP wird für anderthalb Jahre verboten.
6. April 1924: Die Mitglieder der aufgelösten NSDAP haben sich mit anderen rechtsradikalen Gruppierungen im „Völkischen Block“ zusammengeschlossen. Der Block erreicht bei der Landtagswahl in Unterfranken einige sensationelle Ergebnisse: Stadt Kitzingen 42,6 Prozent; Landkreis Hofheim 38,2 Prozent; Landkreis Ebern 31,6 Prozent; Landkreis Kitzingen 23,9 Prozent; Stadt Bad Kissingen 22,3 Prozent.
1927: Hitler ernennt Otto Hellmuth, der seit 1922 NSDAP-Mitglied ist, zum Gauleiter der unterfränkischen Nationalsozialisten.
1928: Hellmuth wird in den Landtag gewählt. Die unterfränkische NSDAP fordert zum Boykott jüdischer Geschäfte auf.
24. März 1929: In Manau bei Hofheim wird ein fünfjähriger Junge mit einer Halswunde tot aufgefunden. „Der Stürmer“ und Otto Hellmuth behaupten wahrheitswidrig, Juden hätten einen „Ritualmord“ begangen. Am 1. April 1929 ruft Hellmuth zur Lynchjustiz an Juden auf.
16. Juni 1931: Im Landtag äußert der Abgeordnete Otto Hellmuth: „Wenn Hitler und die Nationalsozialisten ans Ruder kommen, dann werden sie durchgreifen. Köpfe werden dann in den Sand rollen.“ Wegen grober Ungehörigkeit wird Hellmuth des Saales verwiesen.
5. März 1933: Hellmuth wird in den Reichstag gewählt, der sich wenig später durch das „Ermächtigungsgesetz“ selbst ausschaltet.
23. Juli 1933: Marktbreit benennt eine Straße nach dem „Führer Unterfrankens“, wie die Zeitungen Otto Hellmuth nennen müssen.
2. Mai 1934: Hellmuth wird in sein neues Amt als Regierungspräsident von Unterfranken eingeführt. Im Sommer 1945 taucht Hellmuth unter. Nach seiner Enttarnung 1947 wird er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. 1955 entlassen, kassiert er eine „Heimkehrer-Entschädigung“ von 5160 DM und lässt sich als Zahnarzt in Reutlingen nieder. Hellmuth nimmt sich am 20. April 1968, dem Geburtstag Hitlers, das Leben. An die Wand schreibt er mit seinem eigenen Blut „Heil Hitler“. Text: Roland Flade