Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah seinen gewölbten, braunen Bauch . . .“ Meinen gut genährten, leicht gewölbten und von der Sonne schon schön gebräunten Bauch sehe ich, als ich aufwache. Ich bin kein Käfer geworden. Aber ich muss wohl eingeschlafen sein. Das Buch mit den „Sämtlichen Erzählungen“ liegt aufgeschlagen im Sand. Eine Seite bewegt sich sanft im lauen Wind. Eingeschlafen! Bei Kafka! Wie herrlich!
Kanuhura im Lhaviyani Atoll, der vierte Tag im „unfettered paradise“: So steht es auf allen T-Shirts der maledivischen Freitags auf der Insel. „Unfettered“ heißt frei übersetzt „ungehindert“. Es ist sozusagen das Gegenteil dessen, was Gregor Samsa erlebt, und trifft genau auf mich zu: Ich darf und will mich langweilen. Und diese Langeweile durchzieht meinen Körper immer mehr. Am ersten Tag musste ich noch wie ein Getriebener die Insel erkunden. Ich konnte gar nicht anders. Am zweiten Tag wartete ich noch auf was Neues. Irgendwas! Keine Ahnung was genau. Aber schon am dritten Tag kam die Wende: Ich wartete auf nichts mehr. Was soll auch schon groß passieren auf maximal 1412 mal 351 Metern? Die hatte ich ja bereits gründlich erkundet am ersten Tag.
Ein Marathonlauf kommt auf 80 Inselumrundungen
Der Münchner Resortdirektor Robert Hauck hat die Insel sogar auf den Meter genau vermessen. Dabei kam ihm die Idee, noch in diesem Jahr einen Insel-Marathon zu veranstalten mit einer Strecke, welche die Läufer zu 80 Inselumrundungen bringt. Oh mein Gott, wie schrecklich! Da ist mir meine ach so schöne Langeweile doch viel lieber: einschlafen, wann immer es der Körper möchte, faul sein, das Leben einfach kommen lassen, die üblichen Anweisungen im Kopf stur ignorieren – das ist doch der wahre Urlaub. Zumindest wenn man ihn auf den Malediven verbringt.
Kanuhura-Zeit ist eine Stunde plus, um den Tag länger genießen zu können. Um die Langeweile besser verstehen und ausleben zu können. Dem Einsiedlerkrebs da unten im Sand ist es sicher nicht langweilig. Der geht seinem Tagesgeschäft nach. Erst sieht man nur zwei dunkle Punkte aus dem Sandloch in Wassernähe lugen. Radarmäßig scannen die Augen die Umgebung. Und ist die Luft rein, wird gebuddelt, was das Zeug hält. Einmal haben sie vom Resort ein Einsiedlerkrebs-Rennen veranstaltet. Und zwar mit den Krebsen, die stets ein Häuschen mit sich tragen. Jeder der Teilnehmer schrieb eine Nummer auf das Häuschen.
Und als alle losgelassen wurden und in alle Richtungen krabbelten, blieb meine Nummer 11 zu meinem ganzen Stolz ganz souverän an Ort und Stelle, ehe er sich ganz langsam in Richtung Inselinneres aufmachte. Die 11 hat sich dem Rennen einfach verweigert.
Vom Bett sind es gerade einmal 27 schlaftrunkene Schritte in den Ozean
Jeder Tag hat nun seinen eigenen Rhythmus. Aufstehen, 27 Schritte gehen und sich – noch schlaftrunken – in dieses unwirklich blaue Wasser plumpsen lassen. Langsam wach werden, rumplantschen, der Wasserschildkröte „guten Morgen“ sagen, unter freiem Himmel duschen und wohlgemut zum Frühstück radeln. Ja! Radeln! Jeder Bungalow hat zwei Fahrräder, um die Insel entdecken zu können, um zum Wassersportcenter zu radeln oder eben zum Frühstück am Strand. Tolle Idee, das mit den Rädern. Ich ordne das mal unter aktive Langeweile ein, wie das Surfen oder Schnorcheln. Streng genommen treten die Fahrräder aber wahrscheinlich ganz bösartig und kontraproduktiv gegen die Langeweile an, wie dieses Kartenspiel, das in jedem Zimmer ausliegt und als „happy families game“ fungiert.
Früher sammelten wir Buben Autos zu einem Quartett. Auf Kanuhura spielen sie lieber Septett, weil es für fünf Kategorien wie zum Beispiel „Um die Insel“ oder „Im Wasser“ jeweils sieben Karten mit Aktivitäten zum Sammeln gibt. So soll der Langeweile der Garaus gemacht werden. Ich ignoriere die schön gemachte Kartenschachtel einfach und widme mich lieber wieder Gregor Samsa, der gerade feststellt, dass seine Beinchen leicht klebrig sind und der Kiefer kräftig, aber leider nicht dafür gemacht ist, den Schlüssel seiner Zimmertüre rumzudrehen . . . Ein Kanuhura-„Freitag“ bringt freundlicherweise ein Eistuch und einen Mango-Smoothie vorbei. Aber ganz ehrlich: Ich wäre auch so nicht eingeschlafen!
Es gibt Gäste auf Kanuhura, die bleiben genau 29 Tage. Am 30. Tag müssen sie nämlich ausreisen – oder sie haben vorgesorgt und sich vor der Reise einer langwierigen Visum-Prozedur unterzogen. Die Malediven sind ja recht abgeschottet und das einzige Land der Welt mit einer hundertprozentig muslimischen Bevölkerung. Der Islam ist Staatsreligion, Religionsfreiheit gibt es nicht, Kirchen sind verboten. Und jedem, der nicht Muslim ist, wird die Staatsbürgerschaft entzogen.
Deshalb gibt es bewohnte Inseln, auf denen Touristen allenfalls als Tagesgäste geduldet werden, unbewohnte Inseln (zum Kanuhura-Resort gehören zwei dazu) sowie Urlauberinseln, wo Touristen aus aller Welt der Langeweile frönen (sofern sie nicht das teuflische Kartenspiel ausprobieren) und von genauso netten wie fleißigen „Freitags“ hofiert und bedient werden. „Am Gast“, wie es in der Hotellerie so schön heißt, arbeiten ausschließlich männliche Malediver. Es gibt also keine (einheimischen) Zimmermädchen oder Kellnerinnen, sondern Roomboys und Ober.
Ahzam ist einer von ihnen. 19 Jahre alt, seit gut sechs Monaten auf Kanuhura. Er ist ein klassischer „Freitag“ für Gäste, die Robinson spielen wollen und sich auf eine der zwei unbewohnten Inseln übersetzen lassen, um dort komplett abgeschieden den Tag zu verbringen. Ahzam lebt auf einer Insel in einem der südlichen Atolle, etwa vier Flugstunden von Kanuhura entfernt, inklusive Umsteigen. Bald darf er das erste Mal nach Hause, denn er sammelt seine freien Tage an, um dann Urlaub daheim am Stück zu machen. Hundert Dollar kostet eine Strecke mit dem Wasserflugzeug (Touristen bezahlen etwa das Dreifache).
Da muss sich die Investition schon lohnen. Wie zufällig bringt er eine aufgeschlagene Kokosnuss vorbei. Das Resort denkt schließlich mit und weiß, dass so ein moderner Robinson sich nicht nur in der Sonne langweilen will, sondern bei der Hitze auch unbedingt Flüssigkeit zu sich nehmen muss.
Das Begrüßungskomitee empfängt blassgesichtige Gäste
Am Steg reiht sich gerade wieder das Begrüßungskomitee der anderen „Freitags“ auf. Nicht für den Robinson, der gerade von Masleggihura zurückgeschippert wird, sondern für neue Gäste, die mit dem Wasserflugzeug einschweben. Dann stellen sich acht bis zehn Leute, die gerade abkömmlich sind im Tagesgeschäft, im Spalier auf, alle in „Unfettered-paradise“-T-Shirts gekleidet, und empfangen die Neuankömmlinge. Wie gut, dass die 15-sitzigen Twin Otter zwei- oder dreimal am Tag so richtig Lärm machen. Sonst wüsste man ja gar nicht mehr, was das ist: Lärm . . . Dabei steigen allerdings immer die gleichen bleichen und müden Gesichter aus, die – von Tür zu Tür gerechnet – meist in die 18. Stunde ihrer Reise gehen und jetzt nur noch eines machen wollen: Urlaub, ohne Büro und Kollegen, aber mit viel viel Lust aufs Nichtstun.
Wie gerne hätte ich Gregor Samsa nur ein bisschen Langeweile gegönnt. Aber, als unhygienisches Insekt von seiner Familie verstoßen, stirbt er völlig ausgemergelt, noch vor dem nächsten Sonnenaufgang.
Tipps zum Trip Anreise: Gute Flugverbindungen bietet Emirates ab Frankfurt, München, Düsseldorf und Hamburg via Dubai ab rund 760 Euro (www.emirates.com). Flug- mit Umsteigezeit: 13 Stunden, Zeitunterschied: plus 4 Stunden. Zur Einreise für bis zu 30 Tage Aufenthalt genügt ein Reisepass. Sprache: Dhivehi ist die Sprache der rund 300 000 Malediver. Auf allen Hotelinseln und auf der Flughafeninsel wird aber Englisch gesprochen. In einigen Resorts, wie auf Kunahura, ist auch Deutsch geläufig. Geld: Die Landeswährung Rufiya spielt für Touristen keine Rolle. Sämtlicher Zahlungsverkehr wird in US-Dollar oder Euro abgewickelt. Die Resorts akzeptieren auch Kreditkarten. Gesundheit: Impfungen sind nicht vorgeschrieben. Wichtig sind Mückenschutzmittel und vor allem gute Sonnencreme. Kein Leitungswasser trinken! Die Resorts stellen abgefülltes Wasser in den Zimmern zur Verfügung. Reisezeit: Die Malediven sind ein Ganzjahresziel. Beste Monate mit meist wolkenlosem Himmel sind Januar bis April. Der meiste Regen fällt in der zweiten Jahreshälfte. Die durchschnittlichen Tagestemperaturen liegen um 30 Grad (Luft) und 27 Grad (Wasser). Unterkunft: Das Kanuhura wird von einem deutschen Direktor geführt. Die Insel ist vergleichsweise groß und die Strände gehören zu den besten der Malediven. Gewohnt wird ausschließlich in Bungalows oder Villen, alle mit direktem Strandzugang, manche mit eigenem Pool. Gutes Wassersport- und sehr gutes Restaurantangebot (www.kanuhura.com). Ein Preisbeispiel: Sieben Übernachtungen mit Frühstück, inklusive Langstreckenflug und Transfers mit dem Wasserflugzeug nach/von Kanuhura kosten im Zeitraum vom 21. April bis zum 30. September 201721.4.-30.9.2017 ab 2642 Euro pro Person (www.rosetravel.de).