Träge schleppt sich der Gambia-Fluss auf seinen letzten Kilometern dahin, ehe er in den Atlantik vor Westafrikas Küste mündet. Bis zu zehn Kilometer dehnt sich das Flussdelta in die Breite. Den winzigen gleichnamigen Staat teilt der Gambia in eine Nord- und eine Südhälfte. Im sonst so verschlafenen Dorf Juffure am Nordufer des Gambia lassen die Fischer ihre Netze liegen und werfen rasch die Außenbordmotoren ihrer kleinen Boote an, sobald Touristen auftauchen. Ausflugsziel: James Island, eine kleine unbewohnte Insel im mangrovengesäumten Strom, eine Bastion vergangenen Horrors. Im 17. und 18. Jahrhundert deportierten britische und französische Kolonialtruppen von hier aus rund 16 000 Sklaven in die „Neue Welt“ – nach Amerika und in die Karibik. Im Vergleich zum zentralen Sklavenumschlagplatz Gorée Island vor der Küste Senegals war James Island nur ein nachrangiger Außenposten.
Juffure und James Island, das heute auch Kunta-Kinte-Island genannt wird, sind seit langem Wallfahrtsorte für schwarze Amerikaner, die auf der Suche nach ihren Wurzeln sind. Fremdenführer wie Bora Taal erzählen von der Zeit der Sklavenverschleppung, als hätte sie erst gestern geendet. „Manchmal wurden die Sklaven von Aufsehern getötet, wenn ein Fluchtversuch misslang“, erzählt Taal. „Andere kamen in die Dungeons.“
Taal zeigt auf eines der Verliese. Das alte Fort auf James Island ist längst eine Ruine. Die Geschützstellungen sind vom Tropenklima verwittert. Die unterirdischen Kerker verbreiten heute noch eine Atmosphäre kalten Grauens. In den Dungeons saßen aufsässige Sklaven ein, ohne Licht, ohne Kleidung, angekettet bei Wasser und Brot. Die in die Kerkerwände eingelassenen Eisenketten sind bis heute erhalten. Seit 2003 ist die Stätte Unesco-Weltkulturerbe.
Die Sklaverei war Teil eines Dreieckshandels: Westafrikas Häuptlinge bekamen für ihre Menschenware von den Europäern Textilien, alte Gewehre, billigen Fusel und Glasperlen, die Besitzer der überseeischen Plantagen zahlten die Europäer mit ihren Erzeugnissen aus: Zucker, Tabak, Baumwolle, Gewürze und Kaffee. Wie viele Afrikaner in der Zeit vom 15. bis zum 19. Jahrhundert versklavt wurden, ist umstritten. Die Schätzungen schwanken zwischen zehn und 60 Millionen. Ein Großteil starb bereits auf der Überfahrt an Krankheit, Entkräftung, Hunger, Durst oder durch Strafen. Einer, der die Versklavung überlebte und dessen Geschichte Weltruhm erlangte, war der Mandingo-Junge Kunta Kinte aus Juffure. Er wurde im Jahr 1767 als Siebzehnjähriger beim Holzsammeln von Sklavenjägern überfallen, in Ketten nach Amerika verschleppt und dort an einen Südstaatenfarmer verkauft. Von seinen 140 Leidensgenossen auf dem Schiff sollen nur 98 die Überfahrt überlebt haben. Viermal versuchte Kinte zu fliehen, bis ihm zur Strafe ein Fuß abgehackt wurde.
Der schwarze US-Schriftsteller Alex Haley setzte dem Sklavenjungen 1976 mit der Familiensaga „Roots“ („Wurzeln“) ein literarisches Denkmal. Roman und TV-Verfilmung gingen um die Welt. Zwölf Jahre und viele Reisen nach Westafrika hatte es Haley gekostet, seine eigenen Wurzeln in Gambia zu finden und die Geschichte seines Urahns Kunta Kinte zu rekonstruieren. Wahrheit und Fiktion vermischen sich in dem Roman. Haleys Vorfahren hatten die Geschichte Kunta Kintes von Generation zu Generation weitergegeben. Allein aus Juffure sollen im Laufe der Jahrhunderte 600 Einwohner versklavt worden sein. Dass viele von ihren eigenen Häuptlingen und Familienoberhäuptern verschachert wurden, ist im Dorf und im örtlichen Sklavereimuseum kein Thema. Manche im Ort bezweifeln auch, dass Kunta Kinte aus Juffure stammte. Dem Gedenktourismus tut das keinen Abbruch.
Die Sklavereigeschichte ist für Juffure längst ein wichtiger Wirtschaftszweig. Souvenirverkäufer, Bootsverleiher, Fremdenführer und auch der Clan der Kintes selbst verdienen mit. Im Hof des Anwesens der Kinte-Nachfahren spielt ein Gitarrist gegen Bares ein Lied über Kunta Kintes Martyrium. Jahrelang wurden die Touristen zu Binta Kinte geschleust, einer inzwischen gestorbenen Cousine Haleys. Heute spinnen Fremdenführer von außerhalb der Familie den Erzählfaden weiter. Alte Fotos machen die Runde – von Alex Haleys letztem Besuch in Juffure. 1992 war das, zehn Jahre vor seinem Tod.
Vor allem Afroamerikaner werden mit viel Nostalgie bedient. Den eigenen Vorfahren kommt aber kaum einer auf die Spur. Auch Fremdenführer Bora Taal weiß wenig über seine Ahnen. „Auch meine Vorfahren müssen Opfer der Sklaverei gewesen sein“, sagt er. „Aber wir können die Spuren nicht verfolgen, weil unsere Leute ihre afrikanischen Namen nicht mehr tragen.“ Denn die meisten Sklaven nahmen in Amerika christliche Namen an. So bleiben ihnen nur das kollektive Gedenken und die Spurensuche in den Fußstapfen Alex Haleys.