Es ist eisig. Gefühlte minus zehn Grad, obwohl Plus-Temperaturen herrschen. Die Sonne strahlt zwar über der Weststeiermark in Österreich. Aber der scharfe Wind pfeift knapp unterhalb der Hinteren Gullingspitze gewaltig um die Ohren, lässt die Finger in null Komma nichts taub werden. Alle stehen nämlich ohne Handschuhe da in der Hoffnung, mehr Gefühl für die widerspenstigen Felle zu haben, die auf der Unterseite der Tourenskier kleben wie Kaugummi. Zum Aufstieg waren sie ja schön und recht, aber für die nun folgende Abfahrt müssen die klebenden Streifen irgendwie abgelöst, im rüttelnden Wind gebändigt und möglichst sauber zusammengelegt werden. Ein wahres Kunststück – erst recht für blutige Skitouren-Anfänger.
Als hätte Bergführer Willi Seebacher die Windmaschine angeschmissen, um wenigstens eine Schwierigkeit einzubauen. Bislang war alles fast zu perfekt – das Wetter herrlich, keine Lawinengefahr, das Gelände rund um die Planneralm nur sanft geneigt und nicht hochalpin. Es sind Leute dabei, die schon Jahrzehnte auf den Brettern stehen, aber sich noch nie ins unpräparierte Terrain gewagt haben, und mittelmäßige Skifahrer, die schon beim Anblick einer schwarzen Piste Schweißperlen auf der Stirn bekommen. Und so fühlt sich manch einer bei den ersten Schwüngen mit Tourenskiern im Tiefschnee wie am ersten Tag jenseits des Idiotenhügels. Für den drahtigen, dunkelhaarigen Bergführer in der quietschgelben Jacke ist das nichts Neues. Möchtergern-Tourengeher rennen ihm seit zwei, drei Jahren die Bude ein.
Boom im Schnee
Keine Wintersportart erlebt derzeit einen so starken Boom wie Skitourengehen. Allein in Österreich hat sich Experten zufolge die Zahl in fünf Jahren verdoppelt: Etwa 500 000 Menschen besitzen eine eigene Skitourenausrüstung, erklärt Bergführer Seebacher. Das Image habe sich komplett gewandelt. Waren früher vor allem Profis in einer absoluten Männerdomäne unterwegs, zählt der Bergführer immer mehr Otto-Normal-Verbraucher – allen voran „wahnsinnig viele Frauen, junge Frauen“. Willi Seebacher schätzt ihren Anteil auf etwa ein Drittel. Was der Reiz für sie alle ist? Die Kombination aus einigermaßen anspruchsvollem Sport und Natur. „Die Winterlandschaft ist so still, gleitet sanft an einem vorbei. Wenn man so gleichmäßig steigt, ist das fast meditativ“, schwärmt Willi. In seinen Augen hat der Aufstieg etwas Faszinierendes, Beruhigendes.
Ruhig ist es auch in unserer Gruppe schnell geworden. Aber nicht unbedingt, weil alle das Gehen so genossen haben. Vielmehr wurde der Hang immer steiler, das Atmen fiel immer schwerer, jeder musste sich darauf konzentrieren, bei Spitzkehren keinen Knoten in die Beine zu bringen oder abzurutschen. Wer vergisst, dass die Skier mit den Fellen darunter auch im Steilgelände halten, dass man sie immer nur ziehen und nicht vom Boden abheben soll, wird bestraft. Nicht unbedingt sofort, aber „bei ein paar Tausend Schritten wird's anstrengend“, versichert Willi.
Vor der Lawinengefahr warnt der 40-Jährige aber noch viel eindringlicher. Der Berg verzeihe keine Fehler. Erst recht nicht, wenn man trotz hoher Lawinengefahr unbekümmert ins Gelände geht, das Lawinenverschütteten-Suchgerät (LVS) oder die Lawinenschaufel zu Hause vergisst. „Selbst Leute, die 50 Touren im Jahr gehen, sind oft schlecht ausgerüstet, unorganisiert und fahren einfach drauf los“, weiß Willi. Er selbst ist seit 20 Jahren im Geschäft und richtet sich bei jeder Tour für den Notfall ein. Natürlich hat er auch heute Lawinen- und Wetterbericht gecheckt, ein LVS dabei, eine Sonde, um Verschüttete im Schnee zu ertasten, eine Schaufel und einen Biwak-Sack. „Das alles gehört zu jeder Tour, egal wie kurz sie ist und welche Gefahr herrscht“, hat der Bergführer allen eingetrichtert. „Es ist wie beim Autofahren, da muss ich mich auch immer anschnallen.“
Gesagt, getan. Ab sofort hat jeder einen vollgepackten Rucksack und ein piepsendes LVS unter der Jacke. Um Lawinen sicher zu umfahren, steigen Tourengeher heutzutage oft entlang von Skipisten auf und wedeln danach wieder runter. Das funktioniert auch schnell mal nach Feierabend. Was die einen freut, bringt andere aber auf die Palme. Vor allem Liftbetreiber; schließlich zahlen die Tourengeher nichts für die präparierten Hänge, nutzen sie aber trotzdem. Weil es im vergangenen Winter immer wieder zu Zusammenstößen zwischen abfahrenden Alpinsportlern und aufsteigenden Tourengehern kam, hatten drei bayerische Skigebiete kurzerhand ihre Pisten für Tourengeher gesperrt. Der Deutsche Alpenverein schritt ein, weil pauschale Sperrungen rechtswidrig sind.
Unsere Gruppe hat bei der nächsten Tour knapp unterhalb des Dachsteins, dem höchsten Punkt der Steiermark, keine Piste, sondern einen flacheren Südhang gewählt. Der ist lawinentechnisch fast so sicher wie präpariertes Terrain. Und das Equipment lässt sich im tieferen Schnee auch wunderbar testen. Einfach ist es nicht: Willi Seebacher demonstriert, wie die lange, dünne Sonde ausgeklappt und vorsichtig in die weiße Schneemasse gesteckt wird, um einen Verschütteten aufzuspüren. Wo gesucht werden muss, deutet das geldbeutelgroße LVS an, das immer lauter piept – vorausgesetzt, es ist eingeschaltet und die Batterien sind nicht leer. „So was muss man üben, üben, üben“, sagt Willi und berichtet von einem Puls von 200 beim Ausgraben. Den haben die Teilnehmer schon vom Zuhören und Zuschauen – und erst recht bei der anschließenden Tiefschneeabfahrt. Eisig ist es da längst nicht mehr. Der Adrenalinschub sorgt für gefühlte 25 Grad plus.
Tipps zum Trip
Information: Die Steiermark im Südosten Österreichs ist das zweitgrößte Bundesland der Alpenrepublik. Höchster Berg der Steiermark ist der Hohe Dachstein (2995 Meter). Steiermark Tourismus, Tel. 00 43/316/4 00 30 (Internet: www.steiermark.com) und Schladming-Dachstein Tourismusmarketing, Tel. 00 43/36 87/2 33 10 (Internet: www.schladming-dachstein.at) Anreise: Wer fliegen will: Air Berlin fliegt von Berlin, Düsseldorf und Hamburg nach Salzburg. Austrian Airlines und Lufthansa fliegen von Frankfurt dorthin. Weiterfahrt mit Zug oder Mietwagen nach Schladming. Internet: www.airberlin.com, www.lufthansa.de, www.austrian.com Mit dem Auto über München, A 8 bis Salzburg und weiter A 10 (Tauernautobahn) bis Ausfahrt Ennstal. Der Zug München-Schladming verkehrt zweimal täglich, Fahrzeit dreieinhalb Stunden. Internet: www.bahn.de Skitouren: Im Dachstein-Gebiet gibt es jede Menge Möglichkeiten für Skitouren (eigener Flyer an der Bergbahn-Station erhältlich), außerdem im Naturpark Sölktäler und im Skigebiet Planneralm. Geführte Touren und Ausbildung: Am besten wendet man sich an staatlich geprüfte Berg- und Skiführer oder Skilehrer. Zum Beispiel: Alpinschule Herbert Raffalt (Internet: www.raffalt.com) oder Dachstein-Tauern-Adventure (Internet: www.dt-adventure.at) oder Ski- und Snowboardschule Planneralm (Internet: www.sportpension-reiter.at). Lawinenkunde: Der Lawinenlagebericht kennt fünf Warnstufen: geringe Gefahr (1), mäßige Gefahr (2), erhebliche Gefahr (3), große Gefahr (4) und sehr große Gefahr (5). Die meisten Schneebrettunfälle passieren bei Warnstufe 3. Jeden Winter ereignen sich im Alpenraum im Schnitt rund 140 Lawinenunfälle. Etwa 90 Prozent der Lawinen werden von den Wintersportlern selbst ausgelöst.