Dunkel ist es im Wals. Stockdunkel. Kein Wunder, dass immer wieder jemand fluchend über Wurzeln und Äste stolpert. Der Mond hat sich hinter Wolken verzogen. Das einzige Licht, eine kleine Stirnlampe, reicht kaum zwei Meter weit. Das Hotel für diese Nacht ist gut versteckt. So gut, dass man es fast verfehlen würde, stieße man nicht in der Dunkelheit gegen eine Holzleiter – den „Aufzug“ zu den Suiten. Die thronen nicht nur in luftigen acht Metern Höhe mitten in den Baumwipfeln, sie sind teils nur über eine Seilrutsche zu erreichen. Zimmer zwischen Himmel und Erde, ohne Strom und Wasser, ein Leben fernab von Zivilisation und Moderne.
Nur eine Autostunde entfernt pulsiert und vibriert die Metropole Paris. Doch hier im Norden, am Rand des Ärmelkanals, ticken die Uhren anders. Massentourismus? Fehlanzeige. Die wenigsten Frankreich-Touristen kennen die Picardie. Schade eigentlich, denn dort warten unvergessliche Erlebnisse in einer traumhaft schönen Landschaft; seltene Tiere und Schlafplätze mitten in der Natur, die im Frühjahr ihren ganz besonderen Reiz haben. Schon im April ist das Klima in der Picardie so mild, dass Unternehmungen an der frischen Luft doppelt Spaß machen.
Die Baumhäuser liegen in einem gigantischen Naturschutzgebiet. Ein holpriger Feldweg führt dorthin, wo nur noch Wildnis, Wald und Wildschweine sind. Agathe Vuillemenot, die die abenteuerlichen Schlafplätze zusammen mit einem Schulfreund gebaut hat, hat jedem einen Klettergurt in die Hand gedrückt und die Seilwinde erklärt. Fast jeden Tag ist die drahtige 47-Jährige in den Baumwipfeln unterwegs und bringt Gäste in die Nester.
Als sie vor ein paar Jahren mit Kletterern am Felsen hing, kam ihr die Idee, Häuser in luftiger Höhe zu bauen. Keine Unterkunft gleicht der anderen. Vier richtige Liebesnester sind darunter, mit klangvollen Namen wie „ti amo“ oder „coup de foudre“ (Blitzschlag). „Wer hierherkommt, soll das moderne Leben hinter sich lassen, sich auf sich selbst besinnen. Hier gibt es keine Elektrizität, kein fließendes Wasser“, erklärt Agathe.
Dafür wachsen Baumstämme mitten durchs Zimmer, an die man sich angeblich erst nach ein paar Beulen gewöhnt. Für Romantiker gibt es Kerzen, ein Himmelbett, Rosen und Champagner. Aber auch die Verliebten müssen im Fall der Fälle aufs Plumpsklo. Wer nicht die Luxusvariante mit gemütlicher Holztreppe gewählt hat, hangelt sich mühsam im Dunkeln die Leiter nach oben, hängt den Karabiner an der Seilwinde ein und ab geht die Post. 20 Meter, in denen Äste, unbekannte Gerüche und Geräusche vorbeirauschen.
Weniger rasant, dafür entspannend ist eine Fahrt mit einem haitianischen Fischerboot in der nahen Somme-Bucht. Der dortige Kajakclub hat vor zehn Jahren die sogenannten Pirogues in die französische Heimat importiert. Bei Touristen sind die schlanken, langen Kanus sehr beliebt, da sie nur schwer kentern können, dem Einzelnen genug Verschnaufpausen erlauben und einen schnell in unberührte Landschaft bringen. „Die Natur ist einfach gigantisch“, schwärmt Yann Joly, Leiter des Kajakclubs, während der Paddeltour. Vor allem die Vogelwelt ist einmalig – mehr als 300 verschiedene Arten soll es hier geben. Lachmöwen ziehen vorüber, Kormorane machen sich schnell aus dem Staub. Auch die Seehunde sind ziemlich scheu. Dafür lassen sich zwei der berühmt-berüchtigten Salzwiesenschafe durch nichts stören. Mindestens 100 Tage weiden sie in der Bucht, erst dann hat ihr Fleisch den besonders zarten und würzigen Geschmack, den nahrhaften Gräsern und Pflanzen sei dank.
Wer sich durch die Picardie bewegt, wandelt nicht nur auf ungewöhnlichen Pfaden. Auch die Transportmittel sind außergewöhnlich und passen perfekt zum Naturkonzept der Region. Ein Planwagen bringt Touristen durch den Parc du Marquenterre. Man muss nur aufpassen, dass einen der sanfte Tritt der Pferde nicht in den Schlaf wiegt. Schlummern darf man in den Gefährten zwar auch, aber erst nach der Rundtour. Jeder Wagen besitzt Betten mit weichen Matratzen, Duschen sind eingebaut, sogar eine Kochecke für die warme Milch vor dem Einschlafen ist integriert. Alles auf 18 Quadratmetern.
Nicole und Francois Varlet hatten die Idee, die „Roulottes“ aufzumöbeln und fünf davon in die Landschaft bei Vermand zu bringen. „Ideal für Naturverliebte“, sagen sie. Als Begleitung gibt es zur Nachtlektüre noch ein Grillenkonzert und schreiende Käuzchen.
Welcher Natur-Sound diese Nacht ansteht, ist noch unklar, wenn man das Ende der Seilwinde bei den Baumhäusern erreicht. Es ist eine gehörige Portion Kraft nötig, um die letzten Meter auf die rettenden Planken zu schaffen. Und dann hat man doch nur schwankenden Boden unter den Füßen. Dafür ruft Zähneputzen bei Kerzenschein mit Blick in den dunklen Wald Erinnerungen an Zeltlager-Zeiten hervor. Mit dem Wasser aus der Plastikflasche sollte man sparsam umgehen, für die Katzenwäsche am nächsten Morgen muss noch etwas übrig bleiben. Zum Schluss: Kerzen ausblasen. Es wird wieder dunkel. Stockdunkel.
Tipps zum Trip
Infos im Internet: www.franceguide.com und www.picardietourisme.com Anreise: Flug: Mit Air France von Stuttgart nach Paris. Weiter mit dem Mietwagen (www.airfrance.com). Zug: Mit ICE und/oder TGV nach Paris. Weiter ab Paris Nord nach Compiegne (www.bahn.de) Unterkunft: Baumhäuser (in Pierrefonds): Ab April bis Oktober, ab 135 Euro pro Nacht (www.leniddanslarbre.fr) Planwagen: Auf 18 Quadratmetern Platz für maximal vier Personen. Ab 95 Euro pro Nacht für zwei Personen (www.maison-omignon.com) Naturerlebnisse: Somme-Bucht: gilt mit ihrem Delta als eine der schönsten Buchten Frankreichs (www.baiedesomme.fr) Pirogue-Fahrten in St.-Valery-sur-Somme: Ab 25 Euro (70 Minuten): www.kayak-somme.com Parc du Marquenterre: Mehr als 360 Vogelarten auf 260 Hektar. Planwagen: www.parcdumarquenterre.com