Cuidado, estas vacas rojas tienen muy mala leche!“ Jose Torres warnt mich: Mit den berühmten roten Kühen, die in den Picos de Europa grasen, sei nicht zu spaßen. Sie haben, wie es heißt, „schlechte Milch“ – also wahlweise schlechte Laune oder einen schlechten Charakter. Doch der Wanderweg, der uns in die nordspanischen Berge führt, führt durch die Herde hindurch. „Ruhig bleiben und auf keinen Fall losrennen“, mahnt Stephan Wirth. Er ist mein Mann, hat fast zwei Jahre Bergtouren in Asturien begleitet, kennt die Berge gut und wird Jose und mich auf den Gipfel führen. Beide waren schon einmal am Urriellu und klettern mit mir die über 300 Meter nun noch einmal.
Es ist später Nachmittag, aber immer noch wahnsinnig heiß. Rund vier Stunden Weg liegen vor uns. Wir wollen abends noch zum Refugio aufsteigen, der bewirtschafteten Berghütte am Fuß des Urriellu. Der Aufstieg beginnt ziemlich steil. Unsere Rucksäcke mit den ganzen Klettermaterialien sind nicht gerade leicht. Unglaublich, was man alles für eine solche Mehrseillängentour braucht. Neben Seilen, Karabinern und Schlingen, Helmen, Klettergurten und Kletterschuhen haben wir auch jede Menge Keile und sogenannte Friends dabei.
Das sind Klemmgeräte aus Metall, die man in Risse oder Spalten schieben kann, um sich daran zu sichern.
Durch die Berglandschaft spazieren wir im wahrsten Sinne des Wortes auf Wolken. Denn die Wolkendecke, die so häufig den Himmel über Asturien bedeckt, das „Mar de Nueves“, liegt unter uns und gibt dem Panorama etwas Magisches. Zwischendurch wird der Weg wieder flacher. Wir sehen Orchideenarten wie das Brandknabenkraut und, als er nach rund zwei Stunden ins Blickfeld rückt, immer wieder auch den imposanten Monolithen, den wir am nächsten Tag erklettern wollen. Einmal weichen wir Packpferden und ihrem Führer aus, die Materialien aus dem Refugio ins Tal transportieren. Und immer wieder werden wir von Bergläufern überholt, die sich auf den steilen, unwegsamen Wegen bewegen wie andere auf einer Straße. Gut, dass wir unsere Betten bereits reserviert haben.
Oben picknicken wir erst einmal auf der Terrasse der Berghütte, dann geht es ins Matratzenlager. An Schlaf ist dank schnarchender Zimmergenossen und vielleicht auch wegen der ungewohnten Höhenluft nicht zu denken. Außerdem brechen ab nachts um 1 Uhr die ersten schon wieder auf. Unser Wecker steht auf 5.45 Uhr, und als wir aufstehen, gehören wir tatsächlich zu den allerletzten. „Ja, so ist der Alpinismus. Früh aufstehen, schlechte Nächte und schlechtes Essen“, meint Stephan und lacht. Vor der Hütte checken wir noch einmal die Rucksäcke. Wir stapfen los. Rund eineinhalb Stunden dauert es noch einmal von der Hütte bis an den Wandfuß an der Ostseite.
Wir haben uns gegen die leichten Routen in der Südwand entschieden, denn diese sind die beliebtesten. Und dort, wo viele Kletterer hochgehen, fallen auch häufig Steine hinunter. Deswegen sind leichtere Touren oftmals gefährlicher als schwerere.
Die Route, die wir uns ausgesucht haben – sie heißt „Espejismo de Verano“, was man etwa mit sommerliche Luftspiegelung übersetzen kann –, ist trotz des regen Betriebs auf der Hütte noch frei. Perfekt! Stephan platziert schon einmal sein Seil am Einstieg, legt den Gurt an, sortiert sich die Materialien am Gurt, setzt den Helm auf und schlüpft in die Kletterschuhe. Nun heißt es warten, bis er sich einen Standplatz eingerichtet hat, und dann die Seile einholt, an denen er Jose und mich sichern kann. „Nachkommen“, höre ich von oben. „Seil ein“, rufe ich zurück. Klare Kommandos sind wichtig, damit jeder genau weiß, was er als Nächstes zu tun hat. Deswegen sind wir zur Vorbereitung auf diese Tour auch auf einige Türme geklettert und haben das Abseilen immer wieder geübt.
Zunächst geht es gemächlich los, auch wenn das Klettern an den Wasserrillen ungewohnt ist und es mir ziemlich schwierig vorkommt. Doch nach den ersten unsicheren Metern komme ich ganz gut zurecht. Etwa zwei Meter neben mir klettert Jose. Um Zeit zu sparen, werden wir die meisten Seillängen parallel klettern. Ein weiterer Vorteil: Da wir zu dritt unterwegs sind und ich immer als Zweite starte, bin ich nie alleine am Standplatz.
Den Standplatz braucht man, um sich in die Wand zu hängen und um dann wieder von Neuem losklettern zu können. Denn das Seil ist ja nicht 300 Meter, sondern in unserem Fall 80 Meter lang.
Insgesamt sieben Seillängen werden wir klettern, dafür werden wir ungefähr sechs Stunden benötigen. Der Fels ist aus Kalkstein, der Gipfel befindet sich in 2518 Metern Höhe. Wir klettern schon rund 20 Minuten, da schallt es von oben: „Piedras!“, also „Steine“. Mit einem merkwürdig sirrenden Geräusch fällt ein Stein ins Tal, Gott sei Dank ein ganzes Stück weit entfernt von uns. Dank unserer Routenauswahl wird es der einzige Stein an diesem Tag bleiben.
In der zweiten Seillänge der Wand ist die schwierigste Stelle. Stephan klettert einfach drüber. Für mich im Nachstieg ist es nicht so einfach, im Gegenteil, die Route ist plötzlich richtig schwer. „Ánimo, ánimo“, rufen die Jungs aus der Seilschaft nebenan und grinsen breit – nur Mut, auf geht's. Also gut. Ich fasse mir ein Herz, klettere los, dann lösen sich meine Finger von der Wand. Ich falle ins Sicherungsseil. Also noch einmal. Dann bin auch ich oben. Es folgen drei leichtere Seillängen und ein Quergang in luftiger Höhe. Oben laufen alle Routen der Ostwand zu einer Tour zusammen, es gibt deshalb einen richtigen Stau.
Über eine Stunde müssen wir warten, bis wir endlich an der Reihe sind. Wir sitzen gemütlich auf einem Felsband, unsere Füße baumeln in der Luft, das Panorama ist atemberaubend, und unter uns erstreckt sich eine glatte Wand. Jede Menge Zeit, sich mit den anderen Kletterern, die ebenfalls warten, zu unterhalten. Einziger Nachteil: Wir fühlen uns mittlerweile wie ein Spiegelei in der Pfanne, so heiß ist es. Meine Füße sind angeschwollen, sie passen kaum mehr in die eigentlich bequemen Kletterschuhe, die zu allem Überfluss vor allem an den Fersen richtig warm geworden sind. „A mi me duelen los pies. Mir tun die Füße weh“, klage ich dann auch. Die beiden baskischen Kletterer, die sich mit uns den Stand teilen, lachen: „A todos les duelen. Was glaubst du denn, jedem tun die Füße weh.“
Dann endlich sind alle weg, wir können weiterklettern. Die letzten beiden Seillängen führen zuerst über eine steile, glatte Platte, dann über einen Buckel, den die Kletterer den „Knöchelbrecher“ nennen, und schließlich durch ein enges Loch, durch das man nur passt, wenn man sich mit den Füßen zuerst durchschiebt und dann den Kopf nachzieht. Auf der anderen Seite dieses Lochs kommt man in das sogenannte Amphitheater, eine eindrucksvolle riesige Wölbung im Felsen, von dort geht es hinauf bis zum Gipfelgrat.
Das Gelände ist eigentlich nicht anspruchsvoll. Doch dann sehe ich, wie ein Kletterer, der sich eben noch sehr behände bewegt hat, beinahe hinfällt und sich gerade noch ausbalanciert. Hinter ihm geht es bestimmt 200 Meter in die Tiefe. Ja, doch: Da kann einem schon ganz schön mulmig werden. Endlich: Am Gipfelgrat ist die Aussicht tatsächlich spektakulär. Ringsherum sind wir von den Gipfeln der Picos de Europa umgeben, an einem der Gipfel sind ebenfalls Kletterer zu erkennen. Unter uns liegt die Westwand, die steilste Wand des Picu Urriellu. Glatt und grau erstreckt sie sich weit in die Tiefe. An dieser Stelle ist der Monolith etwa 550 Meter hoch. Ganz hinten am Horizont können wir sogar das Meer sehen.
Vor lauter Erschöpfung und Glück, es geschafft zu haben, kommen mir die Tränen. Doch wir müssen den ganzen Weg wieder hinunter, und zwar heute noch, denn die Hütte war völlig ausgebucht. Wir klettern zügig zurück zur Abseilpiste, über die sich die Kletterer wieder nach unten lassen. Rund 200 Meter geht es von hier gerade hinunter. Nun ist es für mich von Vorteil, dass wir ein 80 Meter langes Seil mit uns herumgeschleppt haben: Ich kann mich vom letzten Standplatz aus fast bis zum Weg abseilen und spare so viele Meter Abstieg in immer noch recht steilem Gelände.
Einen Zwischenstopp legen wir noch ein – an einem großen Schneefeld: Vereinzelt liegt Schnee, immerhin sind wir auf rund 1900 Metern Höhe. Das Gefühl, den Durst mit einem ganzen Mund voll Schnee zu bekämpfen, ist einfach sensationell. Wir füllen unsere Wasserflaschen mit Schnee, und dieses besondere Eis lutschend gehen wir weiter. An der Berghütte machen wir noch einmal eine Pause. Die beiden Männer sind noch topfit und gönnen sich ein Bier. Ich liege auf dem Rücken wie ein Maikäfer und japse nach Luft. Zwei Dosen eines isotonischen Sportgetränks später fühle ich mich wie neugeboren und wir machen uns an den über vierstündigen Abstieg.
Es ist bereits tiefe Nacht, als wir wieder am Parkplatz ankommen. Am Auto knipsen wir die Stirnlampen aus und blicken nach oben: Über uns leuchten unzählige Sterne. Ich kann es kaum glauben, es ist wie im Film. Es ist geschafft – wie ich: geschafft – und glücklich.
Tipps zum Trip Anreise: Direktflug München - Avilés (Asturien), alternativ Flug nach Madrid, weiter mit Inlandsflug nach Avilés, Santander oder Bilbao, von dort weiter mit dem Mietwagen nach Arenas de Cabrales in den Picos de Europa. Von Oviedo und Santander aus fahren auch Linienbusse in das Gebiet. Zustieg zur Berghütte: rund 800 Höhenmeter auf Wanderwegen Route Espejismo de Verano: acht Seillängen, maximal sieben. Im Vorstieg sollte mindestens der obere 7. Grad sicher beherrscht werden, die Routen sind zum Großteil selbst abzusichern. Im Nachstieg sicheres Klettern im 6. Grad von Vorteil. Informationen zum Nationalpark Picos de Europa: im Internet unter www. asturiaspicosdeeuropa.com (in englischer Sprache) oder auf der Website des Spanischen Fremdenverkehrsamtes unter www.spain.info (in deutscher Sprache) Übernachtung am Wandfuß: Refugio de Urriellu, Übernachtung 15 Euro. Internet: www.refugiodeurriellu.comHinweis der Redaktion: Unsere Autoren reisen gelegentlich mit Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern und Tourismusunternehmen.