Sinnzweifel, Fahnenflucht im Management und jetzt schon wieder schlechte Ergebnisse: Kurz vor seinem zehnten Geburtstag steckt der Kurznachrichtendienst Twitter in einer Identitätskrise fest. Statt zu wachsen, hat der Online-Service im letzten Quartal 2015 zwei Millionen Nutzer verloren. Von 307 Millionen aktiven Usern im Quartal zuvor konnte Twitter nur 305 Millionen halten, erklärte die Firma in einer Telefonkonferenz.
Im Vergleich zu anderen Social-Media-Diensten erscheint der Zwitscherdienst mit dem blauen Vogel im Logo schon länger flügellahm: Nicht nur Giganten wie Facebook und Google sind mit Milliarden von Usern relevanter, auch Angebote wie Whatsapp oder Instagram haben ihn überholt. Experten fürchten, dass der Höhenflug des Service beendet ist. Finanziell ist Twitter zwar ein Rekord gelungen: Die Erlöse aus dem Anzeigengeschäft stiegen von 479 Millionen Dollar im Vergleichsquartal 2014 auf nunmehr 710 Millionen Dollar. Die Menge an Werbung, die der Auftritt verkraftet, ist aber begrenzt, und unterm Strich verliert die Firma auch zehn Jahre nach ihrer Gründung verlässlich Geld: in den letzten drei Monaten des abgelaufenen Jahres 90 Millionen Dollar. Ohne neue Nutzer ist nicht zu erkennen, wie Twitter je aus den roten Zahlen kommen will.
Geschäftsführer Jack Dorsey hatte schon im vergangenen Jahr festgestellt: „Menschen rund um die Welt kennen Twitter, aber es ist nicht klar, warum sie Twitter nutzen sollten.“ Daran haben offenbar auch neue Features und ein aufgehübschtes Design nichts geändert. Im Januar verließen gleich vier leitende Manager auf einmal das ehedem hippe Start-Up. Die Aktie hat innerhalb eines Jahres mehr als 70 Prozent ihres Werts eingebüßt.
Mitgründer Dorsey war 2015 eigens zurückgeholt worden, um seinen gerupften Piepdienst zu retten. Die Ideen des Silicon-Valley-Überfliegers stoßen aber nicht nur auf Gegenliebe. Für viele User liegt Twitters Nutzwert in der Übersichtlichkeit knapper, chronologisch geordneter Schlagzeilen („Tweets“).
Seit Januar verdichten sich die Anzeichen dafür, dass Dorsey mit Textformaten bis zu 10 000 Zeichen experimentieren lässt – ein Vorhaben, das für einen Aufschrei sorgte, auch wenn der Chef klarstellte, dass man die Nachrichten wohl wird aufklappen müssen, um das bisherige 140-Zeichen-Format zu überschreiten. Dass „Favoriten“ inzwischen „Likes“ heißen und statt des gelben Sterns ein rotes Herz tragen, nahm die Szene hin.
Vergangene Woche folgte aber der nächste Aufstand: Die Website Buzzfeed hatte berichtet, Twitter wolle seine Tweets künftig nach Relevanz statt nach Sendezeit sortieren; aufgebrachte User kreierten das Hashtag #RIPTwitter (Ruhe in Frieden, Twitter). Auch das rückte Dorsey gerade: Die Funktion, seit Mittwoch in den USA freigeschaltet, ist nur eine Option.
Die meisten Maßnahmen wirken bislang hilflos vor einem Grundsatzproblem: Um Twitter sinnvoll nutzen zu können, müssen Profis wie Politiker oder Journalisten vergleichsweise viel Zeit investieren. Breit angelegte Plattformen integrieren simplere Angebote zunehmend in ihre Dienste. Für Online-Surfer schrumpfen damit die Gründe, ihre gewohnten Netzwerke zu verlassen. Und ohne Wachstumspotenzial sehen Analysten für den blauen Vogel rabenschwarz.
Im Magazin „New Yorker“ musste der Piepmatz unter der Überschrift „Das Ende von Twitter“ Federn lassen, für CNN Money pfeift er nach den jüngsten Zahlen ebenfalls auf dem vorletzten Loch. Kritiker werfen Dorsey vor, sich nicht ausreichend um Twitter zu kümmern. Am Geld wird es vorerst nicht scheitern: „USA Today“ zufolge hat die Firma genug Rücklagen, um noch 412 Jahre Verluste zu machen. Unabhängig davon, ob im Twitterversum dann noch irgendwer tschilpt.