Das Gehalt ist in unseren Breitengraden selbst unter Freunden ein Top-Geheimnis. Über Geld redet man nicht. Schon gar nicht unter Kollegen.
Dass wir Deutschen da im Vergleich zum Beispiel zu den Amerikanern irgendwie verklemmt sind, davon ist etwa der Würzburger Uni-Professor Thomas Zwick überzeugt. Schon 2017 sagte er im Interview mit dieser Redaktion, dass die Menschen hierzulande eine für sie unangenehme Gerechtigkeitsdiskussion befürchten, sollten sie öffentlich über ihr Gehalt reden. Also lassen sie es.
Wie das mit den Gehaltsgesprächen läuft
Die Softwareentwickler von Mayflower im Würzburger Stadtteil Hubland sehen das anders. Das Unternehmen um Geschäftsführer Björn Schotte ist ein Beispiel dafür, wie man in der Belegschaft so offen wie möglich mit dem Thema Geld umgeht.
Kern des Gedankens: Die 85 Mitarbeiter in Würzburg sowie in den Außenstellen München und Berlin entscheiden im Beisein von ausgewählten Kollegen mit, wie hoch ihr Gehalt fürs jeweils kommende Jahr ausfällt. Dabei kommen die Zahlen offen auf den Tisch, es wird regelrecht gepokert.

Dem liege freilich ein kompliziertes und standardisiertes Verfahren zugrunde, erläutert Schotte. Demnach kommen immer fünf Mayflower-Beschäftigte zusammen, wenn es um das Gehalt eines Mitarbeiters geht: der Mitarbeiter selbst, zwei von ihm ins Vertrauen genommene Kollegen, einer von zwei "Gehaltscheckern" des Unternehmens sowie ein Mitglied der Geschäftsführung, die aus Schotte, Albrecht Günther und Johann-Peter Hartmann besteht.
Das einstündige Gespräch leitet jeweils der "Gehaltschecker", der zuvor die Aufgabe hatte, mit der Geschäftsführung das Jahresbudget mit allen Gehältern auszuhandeln. Wie Schotte weiter erklärt, geht es dann in den Gehaltsrunden zunächst darum, dass der im Mittelpunkt stehende Mitarbeiter in freier Rede darlegt, wie für ihn das zurückliegende Arbeitsjahr gelaufen ist. Dann bekomme er von einem der Geschäftsführer und den beiden ausgewählten "Beisitzern" eine Rückmeldung, wie sie ihn sehen.
Was es mit den Pokerkarten auf sich hat
Ist das geschehen, legen die fünf Teilnehmer Pokerkarten auf den Tisch. Sie sollen symbolisieren, welche Rolle der Mitarbeiter hatte - von Entscheider bis Mitläufer. Danach schreibt jeder verdeckt auf einen Zettel, welches Brutto-Jahresgehalt er im vorliegenden Fall für angebracht hält.
Nachdem die Zettel aufgedeckt wurden, strebe die Runde bei all den genannten Beträgen eine Einigung an. Das gelinge meistens, so Schotte. Diese Einigung auf ein Gehalt sei aber erst vorläufig. Erst müsse nach allen Gehaltsgesprächen geprüft werden, ob das Gesamtbudget eingehalten wird. Wird es überschritten, werden laut Schotte alle vorläufigen Einigungen entsprechend gekürzt.
Ergebnis: "Zufriedenheit ist gestiegen"
"Die Zufriedenheit ist gestiegen", sagt der 40 Jahre alte Softwarentwickler über den Effekt dieser Gehaltsrunden in seiner Belegschaft. Das unterstreicht sein Kollege Alexander Aulbach. Er rede jetzt freier über Geld. Und: Er wisse jetzt genauer, "was ich dem Unternehmen wert bin", so der 51-Jährige.
Weil immer zwei Kollegen des Vertrauens als "Beisitzer" in den Gehaltsrunden dabei sind, heißt das in der Summe, dass sehr viele Mitarbeiter bei Mayflower viele Gehälter im Kollegenkreis auf die Kommastelle genau kennen. Mit Blick auf den Datenschutz sei das unter anderem von einer Anwaltskanzlei geprüft und für in Ordnung befunden worden, betont Schotte. Sein Gehalt und das der beiden Kollegen in der Geschäftsführung sind im Übrigen nicht Teil des Prozederes.
Weil die Nachfrage nach ihnen in der Wirtschaft so groß ist, haben Softwareentwickler den "Traumjob des 21. Jahrhunderts", wie die "Wirtschaftswoche" in ihrer aktuellen Ausgabe schreibt. Superreich wird man freilich nicht: Einer Analyse des Berliner Jobportals Honeypot zufolge kommt ein angestellter Softwareentwickler mit mindestens acht Jahren Berufserfahrung auf ein Jahresgehalt von durchschnittlich 63 200 Euro.
Und dann die Sache mit den agilen Methoden
Wer den anderen Umgang von Mayflower mit Geld verstehen will, muss das Unternehmen verstehen. Dort läuft vieles anders als in herkömmlichen Bahnen. Es läuft agil. Und dabei kommt man um englische Begriffe wie Scrum, Design Thinking, Coaching oder Kanban nicht herum. Allesamt Vorgehensweisen in Unternehmen, die in den vergangenen Jahren populär geworden sind und Hierarchien abgeschafft haben. "Agil ist der Hype", ist sich Schotte sicher.
Kern des Ganzen: Ein Unternehmen hat einen Auftrag, eigens dafür wird ein interdisziplinäres Team ohne Hierarchien gebildet, das so schnell und flexibel wie möglich das Resultat erzielt - ständig in Rückkopplung mit dem Kunden.
So gibt es bei Mayflower kein mittleres Management mit Abteilungsleitern oder ähnlichen Posten. Für so ziemlich jede Aufgabe gibt es eigene Teams - selbst wenn es um das Inventar der offenen Büros geht oder um die Frage, ob in den Mayflower-Räumen Unisex-Toiletten eingerichtet werden sollen. Allenfalls ein ausgewählter "Scrum-Manager" sorgt in diesen Teams dafür, dass am Ende der Diskussionen ein Konsens getroffen wird.
Groß geworden sind agile Methoden vor 20 Jahren in der Branche der Softwareentwickler. Bei Mayflower gebe es sie seit 2005, behauptet Chef Schotte. Mittlerweile macht die nach dem berühmten Segelschiff der Amerika-Auswanderer im 17. Jahrhundert benannte Agentur zehn Prozent der 7 Millionen Euro Jahresumsatz damit, andere Unternehmen bei agilen Methoden zu beraten. Der Rest entfällt auf Softwareentwicklung.
Der Mayday spielt eine wichtige Rolle
Nicht bürokratisch-träge denken und handeln, sondern schrankenlos und eng am Kundenwunsch entlang - auch so lässt sich agil umschreiben. Damit die Mayflower-Belegschaft das durchhält, sieht Schotte den "Mayday" als wichtiges Element. Alle zwei Wochen am Freitag nehmen sich die Mitarbeiter von den Kunden frei und tun im Büro, was sie wollen. Tischfußball, Musik hören oder machen, nachdenken - so ziemlich alles sei erlaubt, sagt Schotte. Es müsse nur direkt oder sehr indirekt wieder der Arbeit zugute kommen.
Bei einem solchen Mayday ist vor vier Jahren aus der Belegschaft heraus der Gedanke mit den offenen Gehaltsgesprächen entstanden. "Das war dann ein langer Prozess", sagt Schotte heute. "Mit vielen Einwänden."
Letztendlich setzte sich die Idee durch. Kein Wunder, dass es bei Mayflower keinen Tarifvertrag gibt. Das wäre nicht agil. Und dann wäre das Thema mit den Gehältern auch nicht mehr so spannend.