Es gibt ein erstaunliches Phänomen in diesen Tagen und Wochen: 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, nach Ende des Nazi-Terrors und der massenhaften Judenvernichtung, fühlt man sich in dieser Region gelegentlich wie in zwei Welten: Da gibt es jene, die Fragen stellen, die diskutieren – wie zum Beispiel am Dienstag im proppenvollen Saal des Jüdischen Gemeindezentrums in Würzburg: Zeitzeugin Éva Fahidi, die Auschwitz überlebt hat, sprach dort über den ungarischen Holocaust im Sommer 1944.
Über 800 Besucher, davon mehr als die Hälfte Schüler und Studenten, hören der 89-Jährigen gebannt zu, sind wissbegierig, stellen Frage um Frage. Nachher kaufen sie Fahids Bücher und lassen sie signieren, machen Selfies mit der weißhaarigen, freundlichen Frau.
Und dann gibt es die andere Welt, die etwas andere Art der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Erbe: In Rieneck (Lkr. Main Spessart) wurde Elfriede Krutsch seit 2012 angefeindet und bedroht, weil sie eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Erschießung von fünf russischen Kriegsgefangenen beantragt hat. Rienecks Bürgermeister Wolfgang Küber, der Krutschs Ansinnen von Beginn an unterstützt hatte, entschuldigte sich bei der Aufstellung des Gedenksteins sowohl für die Erschießung der Kriegsgefangenen am 29. März 1945 als auch für die verbalen Angriffe und Drohungen von Rienecker Bürgern auf die Stifterin – und auf die Berichterstatter dieser Zeitung.
In Aub (Lkr. Würzburg) sorgte für Aufsehen, dass es der Stadtrat abgelehnt hat, die Grundschule in Baldersheim nach Alfred Eck zu benennen. Dieser hatte das Dorf kurz vor Kriegsende friedlich an die Amerikaner übergeben, den Bewohnern damit Leben, Hab und Gut gerettet. Eck war dafür auf Befehl des Auber Stadtkommandanten Major Busse am 7. April 1945 als „Verräter“ verurteilt und erhängt worden. Nach Alfred Eck jetzt eine Schule zu benennen, schien dem Stadtrat zu viel der Ehre, „die Mehrzahl der Bürger will das nicht“, erklärte Bürgermeister Robert Melber. Dabei hat sich auf tragische Weise gezeigt, wie klug Alfred Eck damals gehandelt hat: In Aub ließen 14 junge Soldaten sinnlos ihr Leben für den zynischen Befehl, die Stadt bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.
In Kitzingen wiederum tut man sich schwer mit der Erkenntnis, dass Kulturpreisträger Richard Rother ein Antisemit war, der schon lange vor der Machtergreifung durch Adolf Hitler 1933 und schließlich bis zum Ende der Nazi-Diktatur 1945 eindeutige Werke konzipiert und angefertigt hat: Judenhass, Kriegsverherrlichung, Soldaten gebärende Mütter – die volle NSDAP-Propaganda.
Seine Anhänger verweisen lieber auf jene Werke, die Rother nach dem Krieg in vielen fränkischen Weinstuben hinterlassen hat, auf seine Lehrtätigkeit, die ihm auch den Kulturpreis der Stadt Würzburg und das Bundesverdienstkreuz eingebracht hat. 1982 wurde die Realschule Kitzingen zur Richard-Rother-Realschule – und heißt bis heute so.
Was die Auseinandersetzungen in Rieneck, Aub und Kitzingen verbindet: Es gibt Bürger, vor allem ältere, die Nazizeit und Judenvernichtung am liebsten für immer ruhen lassen würden. Erst recht, wenn es um den eigenen Ort, um angesehene Einheimische geht, die nach dem Krieg reihenweise „reingewaschen“ wurden: Nazis waren immer nur die anderen. Dass Persönlichkeiten wie Richard Rother, Sportfunktionär Carl Diem oder der Gründer der Städtischen Galerie Würzburg, Heiner Dikreiter, um nur drei Namen zu nennen, in den letzten Jahren durch Zeitzeugen, die lange geschwiegen haben, durch Forschungsarbeiten von Historikern oder schlicht durch die Öffnung von 50 und mehr Jahren versperrten Archiven in ein anderes Bild gerückt werden, will man einfach nicht wahrhaben.
Wozu sich heute noch geschichtlichen Fehlern stellen, weshalb nicht einfach verschweigen oder verleugnen? Erst dieser Tage gab Bundespräsident Joachim Gauck darauf die Antwort im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern: „Ja, wir reden weiter auch über ungeliebtes Wissen, über verweigerte Verantwortung und über alte Schuld. Wir tun es nicht, um uns an eine niederdrückende Vergangenheit zu binden, wir tun es, um wachsam zu sein, um rechtzeitig zu reagieren, wenn Vernichtung und Terror Menschen und Völker bedrohen. Niemand braucht Angst zu haben vor der Wahrheit; ohne Wahrheit keine Versöhnung.“
Junge Menschen haben für so etwas offenbar Antennen, ein gutes Gespür: Sie hören Zeitzeugen, stellen Fragen, es hat viele solcher Treffen in den letzten Monaten gegeben. Würde man Schüler der Kitzinger Richard-Rother-Realschule mit Éva Fahidi, anderen Zeitzeugen oder Historikerinnen wie der Würzburgerin Bettina Keß diskutieren lassen – mit ziemlicher Sicherheit kämen sie von selbst zu der Frage, ob Rother der richtige Namensgeber für ihre Schule ist.
Drastischer formuliert ist es so: In Aub verweigert man einem, der sich gegen die Nazis gestellt und dafür ermordet wurde, die Ehre, eine Schule nach ihm zu benennen. In Kitzingen hingegen darf eine Schule – zumindest noch – nach einem judenfeindlichen NS-Profiteur benannt bleiben: Oberbürgermeister Siegfried Müller duckt sich komplett weg, verweigert jede Stellungnahme. Schuldirektor Michael Rückel hat eine „erneute Überprüfung durch die Schulfamilie“ zugesagt: Die erste, 2013, damals noch mit Direktorin Irma Walter, hatte ergeben, der Name könne bleiben.
Eine andere Art der Geschichtsbewältigung zeigt sich in Würzburg: Dort gibt es seit über zehn Jahren die David-Schuster-Realschule. Schuster, einst von den Nazis ins KZ gesteckt, hat sich ab 1956 für die Versöhnung starkgemacht. Als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde (bis 1996) war er ein Brückenbauer, ein Vorbild – und ist es als Namensgeber für eine Schule.
Ausstellungen in Kitzingen
Am 8. Mai wäre der Bildhauer und Holzschneider Richard Rother 125 Jahre alt geworden. Der Kitzinger Kulturverein PAM zeigt seine Arbeiten in Kitzingen (Rathausdiele) in zwei Ausstellungen: Bis 19. Juli wird Rothers Exlibris-Werk präsentiert, Teil zwei ab 24. Juli widmet sich seinen Druckgra-fiken zwischen 1920 und 1950. Dann werden laut Veranstalter auch „die problematischen Arbeiten Rothers in der Nazizeit“ nicht ausgespart.