Lichtreflexe blitzen durch Bäume und Büsche – tausende von Glasflaschen in den Wänden des Hauses im Wald bei Spiesberg glänzen in der Frühlingssonne. Im Inneren sorgt das Glas für ein magisches grünes Leuchten – ein Anblick fast wie unter Wasser. Das wie verwunschen im Wald versteckte Flaschenhaus, um dessen Entstehung sich manche Geschichte rankt, ist ein ideales Ziel für die „Lost Place und Höhlen Freunde Oberfranken“. Verlassene Gebäude, gezeichnet vom Verfall und überwuchert von der Vegetation, haben es ihnen angetan.
Das Flaschenhaus haben sie im Januar erkundet, als Schnee und Eis auf den Wegen für ein zusätzliches Abenteuer sorgte. „Trotz manchem Ausrutscher lohnte sich der Weg“, berichtet Jacqueline Trütschel aus Altenkunstadt. Geheimnisvoll lugt das einstöckige Gebäude zwischen Fichten und Eichen hervor, die gewölbten Böden der unzähligen Flaschen gliedern die Fassade wie ein Wabenmuster. In einer Badewanne neben dem Eingang keimen Fichtenschößlinge, daneben liegen aufgeplatzte Zementsäcke, von Moos überwuchert. Gemütlich eingerichtet hatte es sich der Erbauer einst, vom Sofa bis zur Waschmaschine und Dusche. Sogar Strom produzierte er mittels einer Solaranlage auf dem Dach.
Doch inzwischen ist das Haus verwaist und Vandalen treiben ihr Unwesen: Eine Wand mit Glasbausteinen neben der Eingangstür wurde mit brachialer Gewalt zertrümmert, ebenso die Fenster, und im ersten Stock wurde sogar ein Loch in die Fassade geschlagen. Jüngst wurde der Eingang zum Grundstück mit einem Vorhängeschloss und Stacheldraht gesichert. Während sich andere nicht um dieses Hindernis kümmern, wie eine niedergedrückte Stelle im Stacheldraht zeigt, ist das Gebäude durch diese Sicherung für die „Lost Place und Höhlenfreunde“ tabu.
„Schon als Kind war ich fasziniert von leer stehenden Häusern und geheimnisvollen Ruinen.“
Jacqueline Trütschel, Altenkunstadt
„Wir betreten nur Gebäude, die offen stehen und würden nie gewaltsam eindringen“, betont Thomas Tix (40 Jahre) aus Bad Lobenstein, der zusammen mit seiner Freundin Brit Orlamünde (48) und Jacqueline Trütschel (33) den harten Kern der sechsköpfigen Gruppe bildet. Im Zweifelsfall fragen sie auch den Besitzer oder erkundigen sich bei den Nachbarn. Klare Regeln, die wichtig sind, da sich die „Urban Explorers“ oder „Urbexer“ (von Stadterkundung), wie die Bewegung sich nennt, bei ihren Expeditionen im rechtlichen Graubereich bewegen. „Die Polizei könnte uns wegen unberechtigten Betretens wegschicken und der Besitzer uns wegen Hausfriedensbruchs anzeigen“, erklärt Tix.
Daher ist ihr wichtigster Grundsatz, die Gebäude wieder so zu verlassen wie sie sie vorgefunden haben. Auch das Mitnehmen von Gegenständen aus den oft noch möblierten Häusern ist für sie tabu – vom Hinterlassen von Graffiti, die den Zauber der Orte zerstören würden, ganz zu schweigen. Stattdessen dokumentieren sie ihre Besuche mit Fotos, die sie in Facebook und auf einer Homepage veröffentlichen. Auch mit dem Drehen von Youtube-Videos haben sie begonnen. Gerade die Romantik des Verfalls fasziniert die Urban Explorers an den Gebäuden, die sie besuchen.
Sessel vorm Fernseher, Bild an der Wand
Der Zauber der Architektur, wie etwa die Stuckdecken und Säulen einer verlassenen Kurklinik in Bad Kissingen, faszinieren sie ebenso wie die Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte – wenn etwa Efeu durch die Fenster eindringt und den Raum in eine Dornröschen-Kulisse verwandelt, Putz von der Decke blättert oder eindringendes Wasser kleine Tropfsteine aus Betondecken wäscht. Da mischt sich Abenteuerlust mit archäologischem Entdeckerdrang und der Dokumentation von Stadtgeschichte.
Faszinierend sind für Jacqueline Trütschel auch die Spuren der früheren Bewohner: Ein Sessel steht in einem ehemaligen Krankenhaus vor einem Fernseher im Design der 1960-er Jahre, als wäre der Zuschauer gerade aufgestanden – nur Staub und abblätternder Putz verraten, wie lange der Raum verwaist ist. Ein romantischer Anblick, fast wie auf einem Gemälde. Einer ihrer Lieblingsorte ist ein verlassenes Wohnhaus in Stadtsteinach, in dem die Schuhe der ehemaligen Besitzerin noch im Regal stehen und die Kleider im Schrank hängen, als wäre sie nur einkaufen gegangen. Auf der Vitrine kündet ein Bild der letzten Bewohnerin und ihres Manns von glücklichen Tagen.
„Schon als Kind war ich fasziniert von leer stehenden Häusern und geheimnisvollen Ruinen“, erzählt die gelernte Altenpflegerin und Mutter von zwei Kindern. Da für sie neben der Entdeckerlust auch der Grusel-Faktor verlassener Gebäude im Vordergrund steht, geht sie gerne auch nachts auf Tour. Dafür wählt sie allerdings aus Sicherheitsgründen nur Gebäude aus, die sie bei Tageslicht schon besichtigt hat, und nimmt immer einen Begleiter mit. Denn in verlassenen Gebäuden lauern Gefahren – herausstehende Nägel sind noch das geringste Problem, oft droht Einsturzgefahr. Thomas Tix ist schon mal durch eine morsche Balkendecke gebrochen und konnte sich gerade noch an der Kante festklammern – unter sich ein vier Meter tiefer Abgrund.
Scharfe Panzergranaten im Gebüsch
Richtig unheimlich war Jacqueline Trütschel zumute, als sie nachts in Stadtsteinach durch die feucht-kalten Hallen einer verlassene Fabrik pirschte, eine Tür öffnete und ihr wohlige Wärme entgegenschlug. In dem Raum lief ein Radiator und die Elektrik war erneuert worden – später stellte sich heraus, dass eine Baufirma den Raum nutzte. Mulmig war es den Urban Explorers auch zumute, als sie auf einem ehemaligen russischen Truppenübungsplatz in Königsbrück auf Panzergranaten stießen. Nachdem sie die Polizei benachrichtigt hatten, stellt der Sprengmittelräumdienst fest, dass die Granaten noch scharf waren.
Ob alte Villa, Industrieruine oder eine ehemalige Bunkeranlage auf einem Truppenübungsplatz – entscheidend ist für die Lost-Place-Gruppe die Entdeckerfreude. Thomas Tix ist schon mal im Urlaub eigens nach Schweden gefahren, um eine große Fabrikruine zu erforschen – nur um dort festzustellen, dass die Abrissbagger schon bei der Arbeit waren. Und Jacqueline Trütschel träumt davon, einmal die nach der Tschernobyl-Katastrophe zur Sperrzone erklärte Stadt Prybjat zu erkunden. Auch wenn es im Landkreis Lichtenfels im Vergleich zu Hochfranken oder den östlichen Bundesländer nicht viele verlassene Gebäude gibt, so würde sie auch eine Exkursion durch die unterirdischen Gänge in Lichtenfels reizen. Schließlich soll dort die „Weiße Frau“ spuken. Und alte Sagen haben es ihr angetan. So hat sie begonnen, auf ihrer Homepage regionale Sagen, wie „Der Teufel und die Drillinge“ oder „Die Weiße Frau vom Ebersberger Forst“ nachzuerzählen. Motive für ihre Geschichten findet sie bei ihrem Exkursionen genug. Außerdem Gemeinschaft und sportliche Betätigung.
Die Urban Explorers Entdeckungstouren durch verlassene Gebäude und Höhlen sind die Leidenschaft der „Lost Place und Höhlen Freunde Oberfranken“. Objekte für ihre Touren finden die Urban Explorers oder Urbexer in Urbex-Gruppen auf Facebook, in Foren und auf Websites oder Blogs. „Viel draußen unterwegs sein und die Augen offen halten“, empfiehlt Thomas Tix. Und wenn man schon grobe Hinweise hat, helfe eine Suche über Google und Google Earth. Auf Medienwebsites könne man nach aktuellen Schließungen suchen. Ältere Menschen und Zeitzeugen bieten ebenso wie Stadtarchive: Informationen aus erster Hand. Gerne nimmt die Gruppe auch Interessierte auf ihre Exkursionen mit oder tauscht sich über Lost Places mit ihnen aus. Allerdings geben sie Hinweise auf Objekte nur an vertrauenswürdige Personen, um Vandalismus vorzubeugen. Bilder ihrer Exkursionen posten die „Lost Place und Höhlen Freunde Oberfranken“ in Facebook (6793 Likes). Außerdem veröffentlicht Jacqueline Trütschel Bilder und regionale Sagen und Legenden auf ihre Homepage www.jackylp.jimdo.com.