Am 9. Juli 1944 starb in Kulmbach Elise Gleichmann, die bedeutendste Sagensammlerin unserer Region. Nach 75 Jahren ist ihr Werk nicht vergessen und erlebte in den letzten Monaten eine Renaissance. Ihr ist es zu verdanken, dass wir auf einen Sagenschatz zurückgreifen können, der von der Authentizität einmalig ist. In lebendiger Sprache stellt sie Sagengestalten am angrenzenden Obermain vor.
Am 12. August 1854 wurde sie im Kulmbacher Ortsteil Spiegel geboren. Sie besuchte die obere Schule in Kulmbach. Obwohl ihr Vater, der Bierbrauer Johann Georg Friedrich Hollweg, darauf bedacht war, sie Hochdeutsch und auch Französisch zu lehren, pflegte sie schon als Kind und Jugendliche ihre Liebe zur heimischen Mundart. 1873 heiratete sie den Forstgehilfen und späteren Förster Gustav Gleichmann. Bis zum Tode ihres Mannes im Jahr 1908 war sie Hausfrau und Förstersgattin.
Als 55-jährige Witwe wurde ihr bisheriges Hobby zur Berufung. Sie sammelte neben heimischen Sagen auch Kinder- und Schlumperlieder. Sie erforschte die Sitten und Gebräuche des Kulmbacher Landes und arbeitete an einem Wörterbuch der oberfränkischen Mundart. Es blieb unveröffentlicht.
Zunächst wurde 1926 im Verlag Schulze in Lichtenfels ein Büchlein mit dem Titel: „Ringelreihen“ veröffentlicht. Darin hatte Elise Gleichmann auf 56 Seiten Kinderspiele, Auszählreime, Spott- und Huppenlieder und Weihnachts- und Osterlieder gesammelt.
Volkssagen nach mündlicher Überlieferung
Ein Jahr später im Jahr 1927 veröffentlichte sie das Buch: „Von Geistern umwittert – oberfränkische Volkssagen“ im gleichen Lichtenfelser Verlag. Es ist eine bedeutende Sagensammlung mit 135 Volkssagen des Raumes Kulmbach-Lichtenfels. Ihre Aufzeichnungen basieren auf mündlicher Überlieferung; das macht ihre Texte lebendig und authentisch. In den 1920er und 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden in Oberfranken viele heimische Sagen gesammelt. Oft waren es Volksschullehrer, die die Erzählungen der Dorfbewohner in nüchternen Kurzberichten schriftlich in Hochdeutsch festhielten.

Das war bei Elise Gleichmann anders. Sie schaute dem Volk aufs Maul und schrieb einige Sagen in ihrer Mundart auf. Die Volkssagen wurden aufgeschrieben wie frisch erzählt. Der Volkskundlerin half, dass sie durch die berufliche Tätigkeit ihres Mannes als Förster mit der Natur und den heimischen Wäldern verbunden war. Das zeigt sich besondern bei ihren Beiträgen zum Hulzfraala, einer typischen oberfränkischen Sagengestalt.
Die Menschen glaubten vor über 100 Jahren, dass sie immer wieder mal das Holzfräulein sahen. Elise Gleichmann schrieb in ihrem Buch: „Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts macht sich öfters das Hulzfraala bemerkbar. Ihr Aufenthalt war der Wald, wo sie mit Vorliebe gute Menschen belohnte, dagegen böse Menschen in die Irre führte.“
Leute aus Schney bekamen Brot vom Huelzfraala
In Sagen vom Holzfräulein am Obermain heißt es, im Wald bei Schney riefen die Kinder beim Beerensammeln: „Huelzfraala, hosta drei Beerla, gäb me a bo mehra!“ Die Leute aus Schney erzählten, dass sie beim Holz sammeln immer wieder mal dem Holzfräulein begegnet seien und sogar ein Stück Brot geschenkt bekommen hätten. Die äußere Erscheinung vom Holzfräulein ist dem Menschen ähnlich. Es sei kleiner und gleiche den Zwergen: Sie schauten mit dem Kopf nicht einmal über das Schwarzbeergesträuch heraus. Stets trugen sie graue Kleidung.
2019 rückte Elise Gleichmann nochmals in den Mittelpunkt ihrer Geburtstadt Kulmbach. Vorgestellt wurde vor über zwei Monaten das neue Buch „Billmesschnitzer und Hulzfraala.„ Im überfülltem Raum auf der Plassenburg wurde den Zuhörern das Ergebnis eines Projektes vorgestellt. Die erste Auflage von nur 100 Exemplaren war sofort vergriffen.
Bewohner des Seniorenheims „übersetzten“ neues Sagenbuch
Kreisheimatpfleger Harald Stark machte im Jahre 2014 Andrea Senf vom Kulmbacher Literaturverein auf den Nachlass von Elise Gleichmann aufmerksam. Doch die mit 458 Seiten handschriftliche Aufzeichnungen waren in alter deutscher Schrift beschrieben. Zunächst stiegen als „Übersetzer“ Bewohner des Seniorenheims „Mainpark“ ein, dann eine ganze Reihe alter Kulmbacher.
Mit Volkssagen begeben wir uns immer wieder auf eine Reise in die Vergangenheit am Obermain und die angrenzenden Regionen. Wir entdecken dabei an Felsen, Burgruinen, Mühlen und vielen anderen geheimnisvollen Orten Geschichten. Im 21. Jahrhundert werden wir wieder für die Volkssagen aus unserer Region sensibel. In alten Büchern sind sie zu lesen. Der Sagenschatz von Elise Gleichmann ist besonders empfehlenswert.
Unternehmen Sie doch in einer lauschigen Sommernacht eine Nachtwanderung. Vielleicht begegnet Ihnen in der Dunkelheit ein feuriches Mennla, eine Hexe oder im Wald ein Hulzfraala.