Wähle ich oder wähle ich nicht? Nutze ich die Briefwahl oder gehe ich zum Wahllokal? Diese Frage stellt sich am Obermain der eine oder andere unter den Bürgerinnen und Bürger. Am 23. Februar ist die Bundestagswahl. Bei der vorigen Wahl im September 2021 lag die Wahlbeteiligung bei 76,4 Prozent. Der Anteil der Briefwähler erreichte 2021 einen Rekordwert. Mit 47,3 Prozent machte fast die Hälfte der Wähler von der Briefwahl Gebrauch. Bei der jüngsten Europawahl 2024 lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei 64,74 Prozent, europaweit nur bei 50,74 Pozent!

Viele vergessen dabei, dass es in anderen Ländern erschwerte Bedingungen bei einer Wahl gibt. Unser Mitarbeiter Andreas Motschmann, der aus Altenkunstadt stammt und vor vielen Jahren eine neue Heimat in Bolivien gefunden hat, begleitet seine Frau Cintia am Wahlsonntag in Bolivien.
Keine Briefwahl möglich
Cintia steht am Sonntagmorgen auf und weiß, dass sie heute wählen muss. Muss? Ja, in Bolivien besteht Wahlpflicht! Um 9 Uhr hat es im subtropischen Tiefland fast 30 Grad. Gerne würde sie die Briefwahl nutzen oder zumindest zum Wahllokal mit dem Auto fahren, doch beides ist nicht möglich – keine Briefwahl und Fahrverbot! Nur wer eine Sondergenehmigung beantragt, darf fahren.

So macht sie sich mit ihrem Mann und der Enkelin zu Fuß auf den Weg. Auf der Hauptstraße ist weit und breit kein Auto zu sehen. Wo sonst Autos rasen, laufen Eltern mit ihren Kindern oder fahren mit dem Fahrrad mitten auf der Straße vorbei. Cintia hat Glück, von ihrem Haus bis zum Wahllokal ist es nur eine halbe Stunde. Andere müssen bis zu einer Stunde laufen. Sie ist an einer Schule angekommen.
Draußen bieten „Fliegende Händler“, die am frühen Morgen, vor Beginn des Fahrverbots, ihre kleinen Verkaufsstände aufgebaut haben, Getränke, etwas zum Essen und Süßigkeiten an. Es geht ins Schulgebäude, nach dem ABC wird das zuständige Wahllokal gesucht. Cintia hat wieder Glück, die Warteschlange ist nicht lang; an anderen Buchstaben sind sie länger.

Cintia bekommt nach Aushändigung ihres Ausweises die Wahlunterlagen. Doch zunächst muss sie in der Wählerliste unterschreiben und dies zusätzlich mit Fingerabdruck im Tintenkissen bestätigen. Dann kann sie in einem Raum ihren Wahlschein ausfüllen. Im Flur wirft sie unter Aufsicht der Wahlhelferin den Schein in die Wahlurne. Fertig! Sie bekommt ihren Ausweis zurück und einen weiteren Ausweis in Papierform. Wieso das? Diesen Wahlbestätigungsausweis muss Cintia in den nächsten drei Monaten in der Bank vorlegen. Wenn sie nicht gewählt hat, kann sie keine Bankgeschäfte am Schalter abwickeln und bekommt in den nächsten drei Monaten keinen Bankkredit. Wer nicht wählt, zahlt außerdem eine Strafe von umgerechnet 70 Euro, das ist bei einem monatlichen Mindestlohn von 300 Euro viel. Wer an einem anderen Ort arbeitet oder studiert, muss an den Ort zur Wahl gehen, an dem er mit seinem Ausweis registriert ist.
Wahlhelfer per Los verpflichtet
Auf dem Heimweg stellt der Autor dieser Zeilen die Frage, ob Cintia sich einmal als Wahlhelferin zur Verfügung gestellt hat. Sie lacht! Zur Verfügung hat sie sich nicht gestellt, sondern wurde mehrmals dazu verpflichtet. Wie funktioniert das?

Cintia erzählt: „Man wird per Los zur Wahlhelferin bestimmt. Früher musste ich ein paar Sonntage vorher in der Zeitung nachsehen, ob meine Ausweisnummer aufgelistet ist. Heute kann ich im Internet nachsehen. Manchmal hatte ich jahrelang Glück, und dann wiederum musste ich gleich zweimal hintereinander ran. Da heißt es sehr früh aufstehen und zum Wahllokal zu Fuß gehen; erst am späten Abend kommt man nach Hause.“
In Deutschland bekommen ehrenamtliche Wahlhelferinnen und -helfer als Aufwandsentschädigung ein sogenanntes Erfrischungsgeld, das je nach Kommune 25 Euro oder mehr beträgt. Darüber kann Cintia nur lachen. Sie bekommt kein Geld, ihr Essen und Trinken muss sie selber mitbringen. Wer seiner Aufgabe als Wahlhelfer nicht nachkommt, zahlt eine Strafe von umgerechnet fast 200 Euro. Befreit wird man nur mit einem ärztlichen Attest; Menschen im Rentenalter sind auch befreit.
Alkoholverbot am Wochenende
Wir sind fast zu Hause angekommen. Zwischendurch fahren vereinzelt Autos mit einer Sondergenehmigung an der Windschutzscheibe vorbei. Einige probieren es ohne Genehmigung und hoffen, dass sie in keine Polizeikontrollen kommen. Das kostet!
Unterwegs treffen wir einige Nachbarn auf der Straße; für einen kleinen Plausch ist etwas Zeit. Dann ab nach Hause, denn es wird immer wärmer. Im Haus genießen wir den Schatten und die Ruhe von der Straße. Erst am Abend wird der Autolärm stärker. Der Wahltag neigt sich dem Ende zu, in der Nacht kann Cintia die ersten Ergebnisse am Fernseher mitverfolgen. Der Autor dieser Zeilen bekam bereits zwei Tage vor der Wahl die „Vorboten“ der Wahl zu spüren. Am Freitag waren die Regale der alkoholischen Getränke im Supermarkt mit Tüchern abgedeckt, andere mit Klebeband überzogen: Man kann an diesem Wochenende kein Bier und keinen Wein kaufen. Keiner soll betrunken zur Wahl gehen! Ebenso gibt es keine öffentlichen Veranstaltungen. Sogar der Gottesdienst in der Kirche kann nicht stattfinden.