Es fing ganz beiläufig an. Da saß diese Schaufensterpuppe mit braunen Haaren und blauen Augen am Bühnenrand einer Band, die in der Innenstadt zum Korbmarkt aufspielte. Sie saß, hatte ein Dirndl an und auf ihrer Schärpe stand „Gerlinde I.“ zu lesen. Es war der 16. September 2023 und man dachte sich nichts dabei.
Aber dann kamen die Landtagswahlen und mit ihr die CSU-Feierlichkeit in der Brauerei Lippert. Und während die Parteimitglieder via Bildschirm die Wahlergebnisse verfolgten, stand Markus Söder in Form seines eigenen Pappkameraden hinter einer Absperrung und schaute dem Geschehen fast in Originalgröße zu.
Doppelgängerin?
Doch neben ihm saß auf einem Stuhl eine Schaufensterpuppe. Mit braunen Haaren und blauen Augen, aber diesmal in einer Art Trachtenjeans und mit dem Aufdruck „Auf Bayern kommt es an“ auf dem weißen T-Shirt. Es war der 8. Oktober und man wurde stutzig. Hat Gerlinde I. Geschwister? Doppelgänger? Oder mehrere Gesichter? Eine Geschichte mit Hintergrund.
Christian Bauer lacht. Der CSU-Stadtverbandsvorsitzende feiert an diesem 8. Oktober auch und weiß mehr. Über die Schaufensterpuppe neben Söder, über Gerlinde I. und darüber, wie sie erst nach dort und jetzt nach hier fand. Er weiß sogar, wo die Puppe daheim ist und nennt eine Abzweigung der Alten Coburger Straße in Lichtenfels. Dort wohnt das Ehepaar Kirsten und Mathias Nagengast, die solle man mal fragen.
Wochen später ergibt sich ein Treffen und als Nagengasts die Schaufensterpuppe bei sich daheim präsentieren, sitzt sie im Wintergarten und liest im brandneuen Asterix. Sie liest auf fränggisch und in der Übersetzung vom „Eich“. Da sind sie wieder, diese blauen Augen. „Wir haben sie am 17. April 2022 bei Amazon bestellt“, erfährt man zur Schaufensterpuppe von dem Ehepaar, das es sich daheim ziemlich originell gemütlich gemacht hat. Lemmy von Motörhead grüßt als Bild von einer Wand, während zu Lampen umfunktionierte E-Gitarren sich ebenfalls an Wänden finden.
Wacken-Vergangenheit
Kirsten und Mathias Nagengast sind bekennende Rockmusik-Fans und haben auch eine Wacken-Vergangenheit. Eine mit einem Kapitel, das dem Nachrichtensender n-tv im Jahr 2017 eine Meldung wert war. Damals kam es auf diesem Heavy-Metal-Festival zu einer Beschwerde eines Festival–Teilnehmers. Er nahm Anstoß an dem Umstand, wonach es auf einem solchen Festival musikalisch laut zugehen kann. Bis zu 120 Dezibel wurden schon gemessen.
Schlagzeile auf n-tv
Was ihm aber aufstieß und was n-tv in den „Schlagzeilen zum Mittag“ eine Meldung wert war, ereignete sich in der Nacht zum 3. August. An jenem Donnerstag schallte durch selbst mitgebrachte Boxen einer Gruppe womöglich lautere Musik von einem Campingplatz als von der Bühne. Camper dieser Gruppe waren auch Kirsten und Mathias Nagengast aus Lichtenfels. Er Teamleiter in einem Lebensmittelkonzern, sie Finanzbeamtin. Beigelegt wurde die Sache von einer gut gelaunten Polizei, die dem irritierten Beschwerdeführer riet, sich bei einem solchen Festival doch Stöpsel in die Ohren zu stecken.
Wacken dahoam
Dass das Lichtenfelser Ehepaar den Rock 'n' Roll mag, sieht man auch an den oberhalb der Terrasse angebrachten Bühnentraversen. Hintergrund dafür sind Mathias Nagengasts Knie. Oder noch genauer: „Wacken mit künstlichen Knien ist beschwerlich – also 'Wacken dahoam'“, so der Mann launig präzisierend. Seit 2021 gibt es dieses Privatfestival, dann grillt man schon mal bis zu 200 Bratwürste.
Im Winter wiederum findet auf der Terrasse die „Bunsch-Broadwörschd-Bardy“ (Punsch-Bratwurst-Party) statt. Und für jede Gelegenheit schlüpft Gerlinde in ein anderes Kostüm. Auf die Anzahl der bisherigen Outfits angesprochen, zählt Kirsten Nagengast einen Badeanzug (Einteiler), ein Rocker-Outfit und ein Dirndl (Größe 38) auf. Zu Schützenfest-Zeiten ist auch Bluse samt Jeans möglich.
Doch an der Krone, die Gerlinde I. trägt und die sie zu einer (Korbstadt-?)Königin macht, hat die aus Flensburg stammende Kirsten Nagengast selbst gebastelt. Während Nagengast zu alledem Gedanken Revue passieren lässt, fällt aus ihrem Mund ein neues Wort: „Plottern“. Eine Freundin aus Augsburg hat den Schriftzug Gerlinde I. mittels Schneideplotter angefertigt und sie, Kerstin, hat ihn dann auf die Schärpe aufgebügelt. Doch zurück zur Musik.
Der Weg auf die Korbmarkt-Bühne
Die Musik war es jedenfalls, die die Puppe auf den Korbmarkt brachte. Denn die Band, die sich "5 Delight" nennt, konnte an jenem 16. September nur zu viert auftreten. Es war also „der fünfte Mann“ gefragt. Da Nagengasts beste Kontakte zur Band pflegen, schließlich spielte sie bei der Hochzeit auf, kam Kirsten Nagengast schnell auf eine dekorative Idee: „Wenn ihr jemanden braucht, kann ich Gerlinde mitgeben.“
Damit Gerlinde nicht einsam ist, wünschen Nagengasts ihr einen verständnisvollen Partner. Doch Kirsten Nagengast hat dazu konkretere Vorstellungen als ihr Mann, denn ihr, der leidenschaftlich Nordlicht gebliebenen Frau, schwebt ein „Adsche“ vor. Adsche, so wird der Bauer Arthur Tönnsen (gespielt von Peter Heinrich Brix) in der Serie „Neues aus Büttenwarder“ genannt. Und Adsche war in seiner Jugend mächtig in Gerlinde verliebt. Wer also einen Adsche, eine männliche Schaufensterpuppe für Gerlinde I. daheim hat und loswerden will, der kann sich gerne bei Nagengasts melden.
Definitiv konservativ
Doch wie kam Gerlinde an jenem 8. Oktober zur CSU? Ist sie konservativ? „Definitiv“, bekräftigt Mathias Nagengast lächelnd. Und lächelt nicht ohne Grund. Ein bisschen alter Ego ist Gerlinde hier nämlich schon, denn Nagengast ist selbst bei der CSU. Schon mit 18 war er das, trat dann wegen Max Streibl aus und am 23. Juli 2010 wieder ein.
Der Gedanke, wonach Gerlinde wenigstens ehrenhalber auch Mitglied in der Partei werden könnte, gefällt Mathias Nagengast. Wie sein Blick dabei zur Decke geht, sieht man ihm förmlich an, dass hinter der Stirn der Schriftzug „CSU H. c.“ auftaucht. Vielleicht lässt er sich sogar plottern.